Donnerstag, 19. November 2015

Jodi Picoult: Bis ans Ende der Geschichte

Hörbuch, gelesen von Barbara Nüsse, Lisa Wagner, Patrick Heyn, Wolf-Dietrich Sprenger, Cornelia Dörr
Spieldauer: 19 Std. 45 Min.













Inhalt
Sage Singer ist 25 Jahre alt und von Schuldgefühlen geplagt. Nachdem sie einen Unfall verursacht hatte, starb ihre Mutter an deren Folgen, sie selbst behält eine große Narbe im Gesicht davon zurück. Seitdem meidet sie Menschen und arbeitet als Bäckerin in einer katholischen Bäckerei in New Hampshire. In einer Trauergruppe, die sie besucht, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten, lernt sie den 95jährigen Josef Weber kennen, mit dem sie sich anfreundet. Es scheint, als könne er ihre Schuldgefühle verstehen und er ist der erste Mensch, dem sie sich anvertrauen kann. Umso mehr erschüttert es sie, als er sie darum bittet, ihm beim Sterben zu helfen. Er wolle mit der Schuld, die er selbst trage, nicht weiter leben. Denn als junger Mann gehörte er der SS an. Sage, deren Großmutter den Holocaust überlebt hat, und nicht über ihre Vergangenheit sprechen möchte, informiert daraufhin Leo Stein, der für eine Behörde arbeitet, die auch heute noch versucht, Nazi-Verbrechern mit entsprechendem Beweismaterial den Prozess zu machen. Gleichzeitig stellt sich ihr, die ihren jüdischen Glauben nie als wichtig erachtet hat, die Frage, warum Josef ausgerechnet sie ausgesucht hat, ihm zu helfen. Und vor allem ihm zu verzeihen, denn auch das verlangt er von ihr - Vergebung. Darum berichtet er ihr von seinen Gräueltaten als SS-Soldat.

Sage beginnt daraufhin, einerseits "Beweismaterial" gegen ihn zu sammeln, indem sie ihn bittet, ihr seine Geschichte zu erzählen. Andererseits nähert sie sich ihrer Großmutter Minka an.
Im 2. Teil des Hörbuchs erzählt Sages Großmutter ihre bewegende Geschichte, von ihrer Jugend in Lodz, den ersten Repressalien bis zum Leben im Ghetto und ihrer Deportation nach Auschwitz. Es sind vor allem die Einzelschicksale und auch das Handeln mutiger Menschen, die diesen Teil sehr persönlich und bewegend machen. Dazwischen wird immer wieder die Geschichte von Anja und Alexander, die Minkas selbst geschrieben hat und die eine weitreichende Bedeutung für sie hat, weiter erzählt. (Diese ist auch im 1.Teil eingebettet.)
Der 3.Teil wird dann wieder sowohl aus Sages Sicht und der Leos erzählt.
Die Frage nach der Schuld und ob man einen Mord vergeben kann, nach der Gnade für einen, der seine Taten bereut und trotzdem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, beschäftigen Sage und lassen sich kaum beantworte. Das Ende hält dann eine Überraschung bereit. 

Bewertung
Insgesamt ist dieser Roman unglaublich vielschichtig. Neben der sehr berührenden Lebensgeschichte der Holocaust-Überlebenden Minka, Sages Großmutter, erleben die LeserInnen bzw. HörInnen auch die Entwicklung Sages mit, der es allmählich gelingt, sich gegenüber den Menschen zu öffnen. Die schwierige Frage nach Schuld und Vergebung bestimmt diesen Roman und wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet- die Opfer, aber auch der Täter kommt zu Wort und versucht, eine Erklärung für sein Verhalten zu finden. Die religiöse Dimension kommt zur Sprache ebenso wie die strafrechtliche, beide in Gestalt von Leo Stein. Auch die eingebettete Fantasie-Erzählung, die Minka über Anja und Alexander und seinen Bruder Kasimir, die beide Untote (Upior), sind, thematisiert letztlich die Frage nach der Verantwortlichkeit des Individuums für seine Taten. Gleichzeitig ist sie eine Allegorie der Beziehung des Hauptscharführer Franz Hartmann zu seinem Bruder Rainer (der Josef Weber vorgibt zu sein), die beide eine wichtige Rolle in Minkas Leben spielen.

Besonders gelungen finde ich die unterschiedlichen SprecherInnen, die die jeweilige Geschichte der Personen sprechen. Die Verzahnung der Geschichte Sages, die sich wiederum Josefs Erinnerungen anhört (ganz wunderbar gelesen) mit der Erzählung ihrer Großmutter, die deren Geschichte widerspiegelt, zeigt die Problematik von Schuld, Vergebung und Gnade aus mehreren Perspektiven und verhindert eine einseitige Sicht. Jeder Teil ist einfühlsam gelesen, man möchte sogar dem jungen Josef Verständnis entgegenbringen, doch irgendwann erreicht man als Hörer den Punkt zu sagen, er hätte "Nein" sagen können. Die Frage, welcher Teil in uns - das Monster oder das Gute - zum Vorschein kommt, wird somit auch an die HörerInnen weiter gereicht. Das überraschende Ende, das sich allerdings andeutet, wirft dann noch einmal ein anderes Bild auf die Frage nach Schuld und Vergebung!

Ich finde ein absolut empfehlenswertes Hörbuch, über das man lange nachdenkt.