Sonntag, 20. Dezember 2015

Ashley Ream: 30 Tage und ein ganzes Leben

Ein Roman, der von der Last unter Depressionen zu leiden erstaunlich leicht erzählt.

Vorne weg
Als ich auf der Rückseite des Romans gelesen habe:
Für alle Leser von Rachel Joyce ("Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry"), Lori Nelson Spielman ("Morgen kommt ein neuer Himmel") und Graeme Simsion ("Das Rosie-Projekt"), waren meine Erwartungen an den Roman ziemlich groß, denn alle drei genannten Romane haben mich berührt und sehr bewegt. Okay, beim Rosie-Projekt musste ich auch ziemlich viel lachen.  So viel kann ich schon mal verraten, die Geschichte hat mich nicht enttäuscht.

Inhalt
Der Roman wird aus der Ich-Perspektive der erfolgreichen Künsterlin Clementine Pritchard erzählt, die unter Depressionen leidet. Sie beschließt ihrem Leben ein Ende zu setzen, sich dabei aber 30 Tage Zeit zu geben,"um das eigene Ableben zu organisieren." (Klappentext)

Warum sie das tut, entschlüsselt der Roman schrittweise.
Jedes Kapitel ist mit der Anzahl der Tage überschrieben, die sie noch zu leben hat.
Ganz zu Beginn muss man sich erst an die Protagonistin gewöhnen, zunächst erscheint sie gar nicht depressiv, sondern eher aggressiv.
"Erst an diesem Nachmittag hatte ich meinen Seelenklempner gefeuert. Wenn man sich wirklich und wahrhaftig dazu entschieden hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, wozu brauchte man dann noch einen Seelenklempner? Auch das war äußerst befreiend. Beides der Rausschmiss und der Entschluss dazu. Danach war ich vollkommen vorsätzlich gegen das Auto dieses Arschlochs gefahren, das immer 15 Zentimeter in meine Auffahrt hinein parkte." (S.5/6)

Dieses manische Verhalten zeigt sie auch, als sie das Bild einer Künstlerin, die sie immer wieder kopiert hat, mutwillig zerstört, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Mit Hilfe ihrer Assistentin Jenny, die sie eigentlich auch gefeuert hat, ohne die sie aber letztlich kein geregeltes Leben führen kann. Jenny kümmert sich ums Essen und ihre Wohlbefinden - soweit das möglich ist. Unglaublich, welches Fast Food sich Clementine "reinzieht", wenn niemand für ihre Nahrung sorgt.
Doch als sie noch 23 Tage zu leben hat, offenbart sich ihr Leiden - leicht und doch eindrucksvoll erlebe ich als Leserin mit, was es bedeutet, nicht aufstehen zu können und spätestens da ist Clementine mir ans Herz gewachsen.
"Als ich aufwachte, fühlten sich meine Gliedmaße hundertmal schwerer an als an anderen Tagen. In diesem Moment war es mir sofort klar: Es war einer dieser Tage. (...) Ich wollte nicht aufstehen. Nicht jetzt und vermutlich niemals mehr. Leider musste ich pinkeln. Der Gedanke kam aus weiter Ferne, als müsste jemand anderes auf die Toilette, nicht ich." (S.115)

Auch im Abschiedsbrief an ihren Ex-Ehemann, den sie offenkundig immer noch liebt, kommt ihr Wunsch zu sterben zum Ausdruck:

"Mit den Krebspatienten hat man dann Erbarmen, sie bekommen Schmerzmittel, um es ihnen so angenehm wie möglich zu machen. Irgendwann werden die Maschinen abgestellt, und wenn man schließlich stirbt, sagen alle, dass es eine Erlösung war. Es ist eine Erlösung, Richard. Aber wenn man krank im Kopf ist, stellt keiner die Maschinen ab, auch wenn die Schmerzen zu heftig werden, auch wenn alle wissen, dass es nicht mehr besser wird. Sie pumpen Dich einfach weiter mit Gift voll und sagen, Dir Du sollst über Deine Probleme reden, als ob das helfen würde. Und irgendwann wissen sie auch nicht mehr, was sie Dir noch sagen könnten. Es sind immer dieselben Schmerzen. Die ganze Zeit. Ich sehne mich einfach nach Erlösung." (S.222)

Ihr verzweifelter Wunsch nicht das zu tun, was ihre Mutter getan hat (ich will an dieser Stelle nicht zu viel verraten), wird immer verständlicher. Auch ihre Sorge um ihren recht chaotischen Kater Chuckles macht sie sympathisch und zeigt, wie sehr sie dieses Tier liebt. Einen neuen Besitzer für ihn zu finden, gehört ebenfalls zu den Dingen, die sie noch erledigen will, wie ihren Vater ausfindig zu machen, der ihre Mutter, ihre kleine Schwester und sie im Alter von 8 Jahren ohne ein Wort verlassen hatte. Als sie ihn endlich findet, offenbart sich eine Überraschung, die ihrem Leben einen neuen Sinn geben könnte, wenn sie es denn zulässt.

Die beste Szene überhaupt ist, als sie in einem Sarg Probe liegen wollte und ihren Ex-Mann mitgenommen hat. Sein Versuch, sie dort wieder herauszuziehen - ich habe wirklich Tränen gelacht -trotz ihrem Wunsch ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Bewertung
Der Roman nähert sich der Krankheit Depression auf sehr eigenwillige Art und Weise, indem er eine erfolgreiche Künsterlin in den Mittelpunkt stellt, die einerseits vor Lebensenergie und Kreativität strotzt und dann wieder nicht in der Lage ist, das Bett zu verlassen. Die an ihrer Lebensgeschichte scheitert und verantwortungsbewusst ihrem Leben ein Ende setzen will. Dabei wirkt der Roman niemals belehrend, moralisch oder bewertend, sondern ist vor allem komisch und berührend.
Das verbindet ihn mit dem Rosie-Projekt, der sich in komischer Art und Weise mit dem Asperger-Autismus auseinander setzt.
Meiner Meinung nach ein gelungener Roman, absolut lesenswert.

Buchdaten
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: btb Verlag
Erschienen am: 11. Mai 2015
ISBN-13: 978-3442746118
Originaltitel: Losing Clementine