Donnerstag, 29. September 2016

Anja Gmeyner: Manja. Ein Roman um fünf Kinder

- ein berührende Geschichte über die Freundschaft von fünf Kindern über soziale und kulturelle Grenzen hinweg.

Hörbuch, Länge 14 Stunden und 32 Minuten
gelesen von Iris Berben
Der Roman ist erstmals 1938 in Amsterdam erschienen und im Aufbau Verlag neu aufgelegt.


Prolog - das Ende (1934)
Vier Kinder warten auf Manja - Karl, Franz, Heini und Harry. Sie sitzen auf einer Mauer, ihrem geheimen Treffpunkt und warten auf ihre Freundin, die sie alle verbindet und die den Kern ihrer seltsamen Gemeinschaft bildet. Ohne Manja ist ihre Freundschaft zerbrechlich und wird die schwierige Zeit nicht überdauern.

Inhalt
Im ersten Teil wird zunächst erzählt, unter welchen Umständen die fünf Kinder gezeugt werden - alle in der gleichen Nacht im Jahre 1922 - und wer ihre Eltern sind.

Heini Heidemanns Vater Ernst Heidemann ist ein Kriegsheimkehrer und Arzt, der auf dem Schlachtfeld einen Lungenschuss erlitten hat. Fast möchte er aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit seine Geliebte Hanna Heidemann verlassen, die darüber tief unglücklich ist. Doch auf dem Weg zum Bahnhof kehrt er um, und die beiden feiern eine glückliche Vereinigung. Ihre liebevolle Zuneigung überdauert die Zeit und Heini wächst in einem humanistischen Elternhaus auf, sich der Liebe der Eltern gewiss. Als Ernst im Krankenhaus aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung einen Zusammenbruch erleidet, bittet Hanna den reichen Bankier Hartung um Geld für den Aufenthalt in einem Luftkurort. Hartung gerührt von solch einer Liebe gewährt ihr eine großzügige Summe. Im Gegenzug verlangt er allerdings, dass Hanna nach der Genesung ihres Mannes Heini zu seinem Sohn Harry mitbringt, so lernen sich die beiden Jungen kennen.

Harry Hartung ist ein zartes Kind, dessen Mutter Hilde ihrer Aufgabe nur unzureichend nachkommen kann. Sie liebt ihren geschäftstüchtigen Ehemann, den Kommerzienrat Max Hartung nicht, hat regelrecht Angst vor ihm, genau wie Harry, der keine Beziehung zu seinem strengen Vater aufbauen kann. Hartung ist ein assimilierter Jude, der im Namen der nationalen Sache illegal mit Waffen handelt und gut dabei verdient . So gut, dass er das Anwesen Bucheneck des mittellosen Adligen Adrian erwirbt, in den sich wiederum seine Frau verliebt. Hartungs Portier in der Bank ist der faschistische Meißner, mit dessen Sohn Franz sich Harry anfreundet.

Franz Meißners Zeugung offenbart das ganze Elend einer unglücklichen, in ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie, in der Frieda Meißner ebenfalls Angst vor ihrem zornigen Ehemann Anton hat. So hält sie in dieser einen Nacht still und wehrt die Annäherungsversuche ihres Mannes nicht ab, obwohl sie es gerne würde. Meißner, der seine vorherige Stellung verloren hat, hasst seine Portierstätigkeit beim reichen "Juden" und verachtet die Roten. Nichtsdestotrotz freundet sich sein Sohn mit dem Klassenkameraden Karl an, dessen Vater ein Kommunist ist.

Karl Müller stammt genau wie Franz aus ärmlichen Verhältnissen, aufgrund seiner kommunistischen Einstellung ist sein Vater Eduard ständig arbeitslos und seine Mutter verdingt sich als Wäscherin. Doch im Gegensatz zu den Meißners herrscht ein liebevoller Umgang in der Familie. Anna Müller ist im Gegensatz zu Frieda eine zupackende, warmherzige Frau, die ihrem Mann zur Seite steht und sich im Krankenhaus der kleinen Manja annimmt, da deren Mutter zu wenig Milch hat.

Manja wird gezeugt von zwei Menschen, die sich in einer verzweifelten Nacht aneinander klammern. Doch während die Ostjüdin Lea, Manjas Mutter, am Leben bleibt, erschießt sich Manjas Vater, da er den Bildern des Krieges nicht entkommen kann. In ihrer Verzweiflung heiratet Manjas Mutter den polnischen und jüdischen Kaufmann Leo Meirowitz, der schon lange um ihre Hand anhält. Gemeinsam ziehen sie nach Berlin. Als Leo, der ahnt, dass Manja nicht seine Tochter ist, Gewissheit erhält, verlässt er Lea mit ihren drei Kindern, die daraufhin in das gleiche Haus zieht, in dem auch die Müllers leben. Aber Lea hat nichts von Annas zupackender Art, so muss Manja mit für ihre Mutter und ihre Geschwister sorgen.

Manja lernt Karl beim Einzug kennen und über ihn auch die anderen drei Jungen. Fortan treffen sie sich immer mittwochs und samstags an der Mauer und verbringen gemeinsam unbeschwerte Stunden der Kindheit. Nur an diesem Ort können sie unabhängig von ihrem sozialen und politischen Umfeld, Freunde sein, füreinander da sein und ihre Träume ausleben.

Doch ihre gemeinsame Zeit erfährt eine Bedrohung durch den aufkommenden Nationalsozialismus, der die Lebensbedingungen der Kinder und deren Familien grundlegend verändert. Während Kommerzienrat Hartung sich Anfeindungen und Schikanen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ausgesetzt sieht, ist diese für den Faschisten Anton Meißner das Sprungbrett für den Aufstieg aus seinem bisherigen sozialen Milieu. Nun kann er sich ein Dienstmädchen leisten und eifrig sammelt er Material gegen Hartung und Heidemann, der ihm mit seiner humanistischen Haltung ein Dorn im Auge ist. Karls Vater hingegen wird als Kommunist verhaftet, während Manja als Ostjüdin ebenfalls den Schmähungen ausgesetzt ist. Die Freundschaft der Kinder wird auf eine harte Probe gestellt. Plötzlich stehen sie auf verschiedenen Seiten, Franz, der im Jungvolk ist, der Viertel-Jude Harry, Karl und Heini, die Manja beide heiraten möchten, sie alle werden noch von ihr zusammen gehalten. Aber wie lange können die Kinder die sozialen und politischen Umstände ausblenden?
Die Lage eskaliert, als ein Schulkamerad von Franz und Karl, Martin mit zum geheimen Treffpunkt der Freunde will. Er ist von Manja angetan, doch sie weist ihn zurück. Etwas, dass Martin nicht ertragen kann und so startet er einen erneuten Anlauf und passt Manja eines Abends ab - mit fatalen Folgen für das junge Mädchen und die Freundschaft der Kinder.

Bewertung
Obwohl es so viele Romane gegen das Vergessen gibt, auch aus der Anfangszeit des Nationalsozialismus, bietet dieser einen tiefen Einblick in das Alltagsleben ganz unterschiedlicher Familien, die den Kommunismus und den Faschismus, aber auch eine humanistische, pazifistische Einstellung repräsentieren. Obwohl die Familien und deren einzelnen Mitglieder so verschieden sind: arm und reich, gebildet und sozial benachteiligt, naiv und weltgewandt, überwinden die fünf Kinder in ihrer Unschuld all diese Gegensätze und knüpfen unbeeindruckt von den Erwachsenen ihr Band der Freundschaft. Bis diese Unschuld angegriffen wird und auch sie in dieser unmenschlichen Zeit kapitulieren muss.

Anja Gmeyner gelingt ein sensibel gezeichnetes Bild der Kinder, ihrer Familien und der tiefgreifenden Veränderungen, die sich aufgrund der politischen Verhältnisse und des staatliche verordneten Antisemitismus ergeben.
Dabei bedient sie sich einer bilderreichen, fast schon poetischen Sprache, die vor allem die Zwischentöne in den vielen Gesprächen innerhalb des Romans beleuchtet. Ihr Affinität zum Bildbereich der Musik ist dabei unüberhörbar. Getragen wird das Hörbuch von der wunderbaren Vorleserin Iris Berben, die die Ungeheuerlichkeiten der Ereignisse mit ihrer Stimme unterstreicht.

Ein wichtiger Roman, der glücklicherweise wieder entdeckt worden ist, und hoffentlich noch viele Leser/innen oder Zuhörer/innen erreichen kann.

Eine interessante Rezension mit Informationen zur Autorin habe ich hier gefunden.




Dienstag, 27. September 2016

Frank L.Baum: Der Zauberer von Oz

- ein Kinderbuchklassiker, der verzaubert.

Lesen mit Mira
Dieses Mal haben wir uns einen Kinderbuchklassiker vorgenommen. Unglaublich, da ist man schon so alt und kennt dieses Märchen, das bereits 1900 in den USA erschienen ist, nicht. Ich bin Mira sehr dankbar, dass sie diese Geschichte vorgeschlagen hat, andernfalls wäre ich nicht auf die Idee gekommen, das wunderbare Märchen zu lesen.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
farbig illustriert von Lisbeth Zwerger
Verlag: NordSüd Verlag
Erschienen am: 17. September 2015
ISBN-13: 978-3314103186

Inhalt
Dorothy lebt in Kansas, in einer ärmlichen Hütte inmitten der Prärie bei ihrer Tante und ihrem Onkel. Ein heftiger Wirbelsturm hebt das kleine Haus, in dem sie wohnen, in Luft und pustet sie gemeinsam mit ihrem kleinen Hund Toto in eine wundersame Welt. Ausgerechnet auf der bösen Osthexe landet Dorothy mit ihrem Haus, nur die silbernen Schuhe bleiben von der Hexe übrig. Die gute Nordhexe, die gekommen ist, um den Sieg über die Böse zu feiern, gibt Dorothy den Rat die Smaragdstadt im Landesinneren aufzusuchen. Dort lebe der mächtige, aber gute Zauberer Oz, der ihr helfen könne, nach Kansas zurückzukehren, was Dorothys sehnlichster Wunsch ist. Sie küsst sie auf die Stirn und hinterlässt ein Zeichen darauf, so wird sie

"durch die Kraft des Guten geschützt, die immer stärker als die Kraft des Bösen ist." (S.62)

Auf ihrer Reise zum Zauberer von Oz findet sie drei ungewöhnliche Freunde:
Die Vogelscheuche, die sich nichts sehnlicher als einen Verstand wünscht.
Den Holzfäller, der als Folge eines bösen Zaubers ganz aus Blech besteht und sich ein Herz wünscht.
Den Löwen, der sehr ängstlich ist und sich Mut wünscht.

Gemeinsam finden sie einen Weg zum Zauberer, der sie vor die neue Herausforderung stellt, die böse Westhexe zu besiegen, erst dann wird er ihre Wünsche erfüllen können.
Die Freunde bestehen zusammen viele Abenteuer. Dorothys Mut und ihre Entschlossenheit, nach Hause zurückzukehren, und die tiefe Freundschaft, die sich zwischen den ungleichen Gefährten entwickelt, führen sie schließlich an ihr Ziel. Doch sie müssen erkennen, dass nicht alles so ist, wie es scheint.

Bewertung
Das Märchen ist zu Recht inzwischen ein Klassiker. Es will nicht belehren oder Angst machen, wie so viele moralische, volkstümliche Märchen, sondern es erzählt vom Mut, von der Freundschaft, von der Entschlossenheit, nicht aufzugeben und seine Freunde nicht im Stich zu lassen.
Gemeinsam mit ihren Freunden verfolgt Dorothy das Ziel, in ihre Heimat zurückzukehren, besteht dabei mutig alle Herausforderungen und zeigt sich gegenüber dem Zauberer, der mehr Schein als Sein ist, äußerst großzügig.
Mirella und ich waren uns einig, dass diese lange Fassung eher für große Kinder geeignet ist, obwohl es kein grausames Märchen ist. Eigentlich sind es mehrere Geschichten in einer und in einigen Szenen springt die Handlung, so dass die Verhaltensweise der Figuren nicht immer gleich nachvollziehbar ist - daher für große Kinder. Schade fanden wir auch, dass der Holzfäller, der einst ein Mensch war, auch mit Hilfe des "Zauberers" blechern bleiben muss.
Die Zauberkunst von Oz zeigt aber, wie entscheidend die Suggestion sein kann. Wenn wir glauben, wir hätten Verstand..., aber lest selbst.

Trotz einiger Kritikpunkte waren wir uns einig, dass es ein sehr schönes Märchen ist und wir glücklich darüber sind, es gemeinsam gelesen zu haben. Es wird sicherlich nicht das letzte sein ;)



Sonntag, 25. September 2016

Benedict Wells: Spinner

- der erste Roman des Autors "Vom Ende der Einsamkeit"

Buchdaten
Taschenbuch, 320 Seiten
Verlag: Diogenes
überarbeitete Ausgabe, erstmals erschienen 2009
ISBN-13:978-3-257-24384-0

Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Jesper Lier ist 20 Jahre jung und von von München nach Berlin gezogen, um Schriftsteller zu werden. Seiner Mutter gaukelt er vor, er würde studieren, hätte eine Freundin und es ginge ihm gut. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Er lebt in einem Kellerloch am Prenzlauer Berg, schreibt nächtelang betrunken an seinem über 1000 Seiten umfassenden Roman "Der Leidensgenosse" und ist physisch und psychisch in einem desolaten Zustand. Sein einziger Freund ist der homosexuelle Gustav von Wertheim, der unbedingt an die Filmhochschule will und aufgrund seines reichen Elternhauses keine finanziellen Nöte hat.

"Wir betraten mein Zimmer. Außer ein paar Postern und den wenigen Möbeln war es leer. Wortlos betrachtete Gustav die unzähligen, überall herumliegenden Seiten von >Der Leidensgenosse<. Jeder sollte mich für so ein kleines Außenseiter-Genie bei der Arbeit halten, deshalb hatte ich die Wohnung damit übersät. Auf so was achtete ich penibel. Es sollte so aussehen, als wäre ich einfach nur unordentlich, dabei verwendete ich wahnsinnig viel Zeit darauf, bis alle auf dem Boden verstreuten Blätter, Kaffeetassen und das an einer schönen Stelle aufgeschlagene Buch von Nabokov an ihrem richtigen Platz waren." (S.31f.)

Der Roman startet an einem Montag und Jesper hat gerade zum wiederholten Male erfolglos versucht, nach München zu fahren. Nächsten Sonntag soll er zuhause sein, um gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder die Wohnung aufzulösen. Nach dem Tod seines Vaters, der zwei Jahre zurückliegt, kann seine Mutter diese nicht halten. Doch es gelingt ihm nicht, in den Zug zu steigen. Obwohl einer der wichtigsten Menschen für Jesper in München lebt: der alte Born, ein eremitierter Germanistikprofessor, der an ihn glaubt und ihn wie einen eigenen Sohn behandelt. Doch gerade ihm will Jesper beweisen, dass er es als Schriftsteller schaffen kann und bricht aus diesem Grund den Kontakt zu ihm ab.

Die Handlung spielt in dieser einen Woche von Montag bis zum Sonntag - eine Woche, in der sich Jespers Leben von Grund auf ändert.
Dazu trägt die Bekanntschaft der Studentin Miriam bei, in der er sich Hals über Kopf verliebt. Außerdem rettet er seinen Jugendfreund Frank aus den Fängen seiner besitzergreifenden Familie:

An die Produzenten von Frank:
Euer Sohn dreht ab jetzt seinen eigenen Film.
IHR SEID BEIDE GEFEUERT.
                                                      Jesper (S.90)

Auch den Kontakt zu Frank hatte Jesper aufgegeben, im verzweifelten Versuch, seinen eigenen Weg zu gehen und seine Träume zu verwirklichen. Doch jetzt wird ihm bewusst, wie wichtig dieser für ihn ist.

"Wir waren kurz vor Berlin, als Frank mich auf den neuesten Stand über alte Mitschüler brachte. Unfassbar, wo die alle gelandet waren. Alle ließen sich treiben, hatten der Willkür des Lebens so wenig entgegenzusetzen. Die eine studierten Lehramt, die anderen Betriebswissenschaft und Jura, der Rest Archäologie, Krankenhausmanagement, Linguistik oder noch seltsamere Sachen. Wenn man ihnen das vor ein paar Jahren prophezeit hätte; sie hätten es nicht geglaubt. Es war schon verrückt: Als Teenager hatten diese Leute Träume gehabt, jahrelang hatten sie sich erzählt, was sie nach der Schule machen wollten. und als sie dann neunzehn, zwanzig wurden, taten fast alle von ihnen was komplett anderes und setzten plötzlich nur noch auf Sicherheit. Alle hatte Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schon Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten." (S.99)

Im Laufe der Woche fällt es Jesper zunehmend schwerer, seine Träume von der Realität zu unterscheiden. Er leidet unter Angstträumen, Visionen, in denen er von seinen eigenen Romanfiguren verfolgt wird. Immer wieder bricht er zusammen und sein körperlicher Zustand verschlimmert sich. Dazu trägt auch bei, dass der alte Born stirbt, ohne dass Jesper noch einmal mit ihm reden kann und dass der Chefredakteur des Berliner Merkurs, bei dem er ein Praktikum absolviert, seinen Roman liest und ihm zwar Talent bescheinigt, von dem Leidensgenossen jedoch enttäuscht ist.

"Ihr Buch ist der totale Stillstand. (...) Alles stagniert. Sie haben Angst, etwas zu tun, Sie warten nur." (S.212)

Mit dieser Aussage bringt er treffend Jespers Leben auf den Punkt, das stillsteht, ohne weiter zu gehen, da die Vergangenheit ihn gefangen hält. Sein Schlüsselerlebnis ist der Tod des Vaters, dem er sich stellen muss, um weiterzugehen.
Als er schließlich im Krankenhaus landet und ein Arzt ihm dringend rät, sich in psychische Behandlung zu geben und seine Lebensweise umzustellen, stellt er sich seiner Vergangenheit, indem er sich seinen Freunden öffnet und die Heimkehr nach München beschließt.


Bewertung
"Spinner" ist Wells erster Roman, den er mit 19 Jahren geschrieben hat. Wie sein Protagonist zog Wells nach von München nach Berlin, um sich dort als Schriftsteller zu versuchen. Inwiefern die Vater-Sohn-Beziehung autobiografische Züge trägt, bleibt offen und ist für den Roman unerheblich, der durch seine Sprachkraft und die Darstellung der Orientierungslosigkeit der Hauptfigur beeindruckt.
Die zentralen Fragen des jugendlichen Protagonisten, die ihn unabhängig vom Tod seines Vaters umtreiben, sind die, mit denen sich jeder an der Schwelle zum Erwachsenensein auseinander setzen muss, sie gehören zwangsläufig dazu, wenn man die Kindheit hinter sich lässt.

"Viele junge Menschen fallen nach dem Ende der Schule in ein Loch. Kein Wunder, wenn sich auf einmal das ganze weitere Leben vor einem ausbreitet und man nicht weiß, wohin man zuerst gehen soll. Und was jetzt? Kriege ich einen guten Beruf? Bin ich glücklich, und wenn nicht, wie werde ich es? Sie kenne diese Fragen vielleicht. Dieses Verlorenheitsgefühl ist ganz normal. Wenn man sein ganzes bisheriges Leben alles vorgeschrieben bekam und dann plötzlich auf eigenen Beinen stehen muss, dann ist das für einen jungen Menschen nicht immer leicht." (S.275)

Wells gelingt es diese Ängste erlebbar zu machen, unter anderem anhand der Figur von Frank, der aus seinem bisherigen Leben ausbricht, ohne jedoch seine Lebensbahn wie Jesper ganz zu verlassen.
Dessen depressive Phasen schildert Wells in eindringlicher, poetischer Sprache: seine
Angst vor dem Erwachsen werden, die Orientierungslosigkeit und den Verlust des Vaters.

Ein Entwicklungsroman, der den schwierigen Weg zeigt, den eigenen Träumen zu folgen, sich der Vergangenheit zu stellen - trotz der Ängste und Unsicherheiten weiter zu gehen und Neues zu wagen.

Beeindruckend!

Dienstag, 20. September 2016

Karl Olsberg: Mirror

"Dein bester Freund bist du selbst" - eine erschreckend realistische Dystopie.


Buchdaten

Taschenbuch: 400 Seiten
Verlag: Aufbau Taschenbuch
Erschienen am: 15.August 2016
ISBN-13: 978-3746632346


Inhalt

Der Mirror ist eine Art Smartphone, der dich begleitet und dir das Leben so angenehm wie möglich machen soll. Die Basisstation, der MirrorBrain ist verbunden mit dem MirrorClip, den man im Ohr trägt und der sowohl zuhören als auch mit dir sprechen kann. Dazu gehört eine Weitwinkel-Kamera, die alles um dich herum erfasst, und ein Armband, das sogenannte MirrorSense, das deine Körperfunktionen misst, wobei es z.B. erkennt, ob du aufgeregt, wütend oder entspannt bist.
Beim Starten des Gerätes machst du ein Selfie und auf dem Bildschirm des MirrorBrain sieht du dein eigenes Gesicht, im Ohr ertönt deine eigene Stimme.

Der Mirror sammelt permanent Daten über dich, auch aus den Social Media und ist vernetzt mit allen weiteren MirrorBrains im sogenannten MirrorNet. Mit anderen Nutzern kannst du dich auch in der virtuellen MirrorWorld treffen, einer 3D-Simulation der realen Welt, generiert von den Daten der Nutzern.

Freitag, 16. September 2016

Krystyna Kuhn: Monday Club. Das zweite Verrat

- der 2.Teil der Mystery-Thriller-Reihe.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger
Erschienen: 9.Mai 2016
ISBN-13: 978-3789140624


Zuerst eine Bewertung...
Den ersten Teil fand ich sehr faszinierend, spannend und war wirklich auf die Fortsetzung gespannt, die mich jedoch ziemlich enttäuscht hat. Einerseits hat sich mein Leseverhalten im letzten halben Jahr sehr verändert, hin zur Gegenwartsliteratur und zu Romanen gegen das Vergessen. Zwar bleibe ich den Krimis und der Fantasy treu, aber sie sind etwas in den Hintergrund gerückt. Andererseits liegt es auch am Roman selbst, in dem sich die Protagonistin, die aus der Ich-Perspektive erzählt, vorwiegend um sich selbst dreht und die Handlung auf der Stelle zu treten scheint. Den dritten Teil der Trilogie werde ich sicherlich nicht mehr lesen. Dabei ist die grundlegende Idee, dass ein Mädchen die seltene Gabe besitzt, sich mit den Toten in Verbindung zu setzen, interessant und auch der Schreibstil der Autorin flüssig und sprachlich ansprechend.


...und ganz kurz der Inhalt
Aber der Handlungsbogen wird überspannt, der zweite Band bringt lediglich die Erkenntnis, dass Faye seit Jahren von der Psychologin Erica Meyers und dem Monday Club als kostbarstes Gut gesehen wird. Sie findet heraus, worin ihre besondere Gabe besteht, kann sich nicht zwischen den attraktiven jungen Männern Josh (ihrem Jugendfreund) und Luke (der die Nachforschungen angestoßen hat) entscheiden und weiß aber ihre Freunde, deren Eltern dem ominösen Monday Club angehören, hinter sich.
Ihr Großvater, ein renommierter Arzt hat anscheinend die Forschungen im Bereich der Nahtoderlebnisse angestoßen und seine Tochter Liz, Fayes Tante, hat diese fortgesetzt. Im Roman bleibt lange unklar, ob Liz Faye all die Jahre benutzt hat oder ob sie sie beschützen möchte.
Sicher ist, dass der Monday Club nicht davor zurückschreckt, Kinder zu opfern, wie Fayes Freundin Amy, um die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten.

Fazit
Schade um die gute Idee!

Vielleicht werde ich auch einfach zu alt, für diese Art von Jugendromanen ;)

Sonntag, 11. September 2016

Wilson Collison: Die Nacht mit Nancy

- eine klassische Kriminalgeschichte.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 249 Seiten
Verlag: Louisoder
Erschienen am: 24. August 2016
ISBN-13: 978-3944153322

Originaltitel: One Night with Nancy

Vorne weg
Der Roman ist erstmals 1933 in New York erschienen, der Autor schrieb in den 20er Jahren Stücke für den Broadway, die zu Kino-Hits und unter anderem mit Clark Gable und Shirley Temple verfilmt wurden. (Quelle: Umschlag)

Im Louisoder-Verlag, der mir freundlicherweise das Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat, ist der Roman glücklicherweise in der deutschen Übersetzung erschienen.

Inhalt
Im Landhaus der Hanleys schrecken die Bewohner und ihre Gäste nachts auf - ein Schrei ertönt kurz nach Mitternacht. Als Mrs. Hanley im Gästezimmer, das von der im Negligé bekleideten jungen, hübschen Dame Nancy belegt ist, erscheint, findet sie dort drei Männer im Pyjama vor. Nancy behauptet von einer Hand, die ihr Gesicht berührt habe, geweckt worden zu sein.
Anfang der 30er Jahre, an der Ostküste der USA, ist dies ein Skandal - eine sexueller Delikt.
Unter den Gästen sind Mr. und Mrs. Foster sowie das Ehepaar Martin und der junge Anwalt Jimmie Landon, der mitten in der Nacht, unmittelbar nach der Tat, von Mrs. Hanley beauftragt wird, ein Kreuzverhör durchzuführen.
Der Roman spielt nur in dieser einen Nacht im Wohnzimmer des Landhauses - es ist eine Nacht mit Nancy.

"Mrs. Hanley stand in der Mitte des Zimmers und starrte wütend zu Nancy herüber, die auf einem kleinen Sofa lag und ihren hübschen Kopf auf ein paar Kissen gebettet hatte. Sie trug ein blassgrünes, pelzbesetztes Negligé, unter dem keck ein Nachthemd in noch hellerem Grün hervorschaute." (S.5)

Die Situation erinnert ein wenig an den "Orient-Express", alle sind eingeschlossen und dem Ermittler ausgeliefert. Als Leser/in erlebt man minutiös mit, wie der Fall gelöst wird.

Die Hausherrin, die selbst in einer unglücklichen Ehe gefangen ist und über ihren Ehemann denkt, es wäre besser gewesen, "wenn Christopher vor zwei Jahren gestorben wäre, als er einen Herzinfarkt hatte" (S.67), hat nur einen Wunsch, "Nancy eine Lektion zu erteilen und den Mann bloßzustellen, der ihre Gastfreundschaft ausgenutzt und versucht hatte, eine Liaison in einem ihrer Schlafzimmer anzufangen." (S.68)
Nancy hingegen bleibt vollkommen entspannt, sie flirtet ungeniert mit dem smarten Anwalt, der ebenfalls ein offenkundiges Interesse an der hübschen, verführerischen Schönheit hegt.

"Wenn er (Jimmie) nicht so grundsätzlich an Nancy interessiert gewesen wäre, hätte er sich mit Sicherheit niemals auf diese absurde Untersuchung eingelassen, die auch etwas Lächerliches an sich hatte. Aber er glaubte, dass Mrs. Hanley absichtlich geplant hatte, Nancy einen Skandal anzuhängen." (S.152)

Im Verlaufe des Verhörs stellt sich heraus, dass fast keiner der Anwesenden zu Beginn die Wahrheit gesagt hat, fast alle verbergen ein Geheimnis. Auch der Butler des Hauses, Phipps, ist nicht der, der er zu sein scheint und avanciert zu einer wichtigen Figur beim Lösen des Falls, der am Ende mit einer unerwarteten Pointe verblüfft.

Bewertung
Ein umwerfender Roman, spannend, überraschend, witzig und erzähltechnisch interessant.
Immer wieder ergeben sich überraschende Wendungen und neue Informationen, die die Spannung trotz des zeitdehnenden Erzählens bis zum Ende des Romans aufrechthalten.

Schritt für Schritt schauen wir hinter die Fassade der scheinbar prüden Gesellschaft, die sich über die offensiv auftretende, emanzipierte Nancy, die unverblümt ihre Sexualität zur Schau stellt, empört.
Und am Ende sind diejenigen, die von den anderen verurteilt werden, die Einzigen, die eine "reine" Weste haben und die Sittenstrengen vorführen.

Ein herrliches Lesevergnügen!




Freitag, 9. September 2016

Oliver Hilmes: Berlin 1936

- Brot und Spiele.


Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
Verlag: Siedler Verlag
Erschienen am: 2. Mai 2016
ISBN-13: 978-3827500595

Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde auf whatchareadin gelesen, der Austausch mit den Mitleser/innen hat mich darin bestärkt es zu Ende zu lesen, was ich anfangs nicht vorhatte.

Vielen Dank auch an das Bloggerportal, das mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Oliver Hilmes stellt die Ereignisse rund um die Olympischen Spiele in kleinen Episoden dar, die er sehr gut recherchiert hat und von die auf Tatsachen basieren.  Am Beginn jeden Tages steht der Wetterbericht für Berlin, es folgen unterschiedliche Eindrücke des Tages auf verschiedenen Perspektiven.
Einen roten Faden bilden dabei die Erlebnisse des Schriftstellers Thomas Wolfe, der auf Einladung des Rowohlt-Verlags nach Berlin gekommen ist und dessen anfängliche Begeisterung für diese Stadt und die Organisation der Spiele verblasst. Nach seiner Rückkehr nach Amerika veröffentlicht er eine autobiographische Erzählung, die "einerseits eine Liebeserklärung an Berlin, andererseits (...) eine wortgewaltige Abrechnung mit den Nazis und ihrem Regime" (S.278) ist.
Neben der Sicht des Literaten zeigen Goebbels Tagebuchaufzeichnungen einen nüchternen Blick auf die Spiele und verdeutlichen die gnadenlose Instrumentalisierung des Sportes für die machtpolitischen Ziele des NS-Regimes, auf die Hilmes immer wieder hinweist, indem er zum Beispiel Anweisungen der Gestapo zitiert. Erhellend sind auch die Tagesmeldungen der Staatspolizeistelle Berlins oder die Auszüge der täglichen Anweisungen der Reichspressekonferenz, die verdeutlichen, dass um jeden Preis der schöne Schein aufrecht zu erhalten ist.

Auch die sportliche Ereignisse kommen nicht zu kurz, wie das Ausscheiden der deutschen Mannschaft beim Fußball oder die Alibi-Jüdin der deutschen olympischen Mannschaft, die Fechterin Helene Mayer. Der Unwille Hitlers über die Siege des schwarzen Sprinterstars Jesse Owens dagegen sind hinlänglich bekannt.
Wirklich berühren die Geschichten der sogenannten "kleinen Leute", die im Fahrtwasser der Spiele untergehen. Wie zum Beispiel die kleine Elisabeth, deren Familie, da sie zu den Sinti und Roma gehören, im Rahmen der Olympiade aus dem Zentrum Berlins verbannt werden und unter menschenunwürdigen Bedingungen am Rande der Stadt zusammengepfercht werden. Diese Geschichten hätten noch stärker in den Vordergrund gerückt werden müssen, da sowohl die politischen als auch die sportlichen Ereignisse nicht Neues erzählen.

Die Darstellung der glamourösen Etablissements, denen eine Gnadenfrist während der Olympiade gewährt wird, um das Bild des mondänen Berlins aufrecht zu erhalten, wie das Beispiel des Quartier Latin zeigt, runden die Eindrücke, die Außenstehende während der olympischen Spiele haben, ab.
Der letzte Teil des Buches beleuchtet, was aus den einzelnen Personen nach den Spielen geworden ist.
So entsteht insgesamt ein interessantes Kaleidoskop der Olympischen Spiele in Berlin im Jahre 1936.

Bewertung
Zu Beginn ist es mir schwer gefallen, in den Roman hineinzukommen. Die Episoden sind zunächst sehr kurz, verschiedene Personen tauchen auf, Schicksale werden angedeutet, ein schneller Wechsel der Orte und Perspektiven erfolgt. Bis auf wenige Einzelschicksale tauchen die Figuren jedoch immer wieder auf und es spinnen sich rote Fäden, wie z.B. die Erlebnisse des Autors Thomas Wolfe oder Goebbels Tagebuchaufzeichnungen, die den Roman stringenter werden lassen.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass weniger Figuren eine größere Identifikationsfläche geboten hätten und man so eventuell tiefer in das Geschehen hätte eintauchen können. So berühren die Einzelschicksale, der Rest zieht vorüber, ohne tiefere Spuren zu hinterlassen.

Insgesamt entsteht ein facettenreiches "Gemälde" der 16 Tage im August, in denen es den Nationalsozialisten leider gelungen ist, einen Großteil der Besucher im Glauben zu lassen, sie hätten eine friedliche Gesinnung. Das Buch zeigt jedoch auf, dass es durchaus Menschen, wie Thomas Wolfe gegeben hat, die es vermochten, hinter den schönen Schein geblickt haben und verdeutlicht erneut die Unmenschlichkeit und Skrupellosigkeit des NS-Regimes. Dadurch gehört es für mich in die Reihe jener Werke gegen das Vergessen.