Sonntag, 30. Oktober 2016

Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer

- ein klassische Novelle.

Illustration von Sempé, Seite 2
Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 130 Seiten mit Bildern von Sempé
Verlag: Diogenes
Erschienen: 1991
ISBN-13: 978-3257018959

Diese kurze Novelle habe ich auf Miras Blog entdeckt und ihre Rezension hat mich so neugierig gemacht, dass ich das Werk selbst lesen wollte. Von Patrick Süskind kenne ich "Das Parfüm" und bin begeistert von seiner präzisen Sprache und seiner Beobachtungsgabe, die sich auch in der Novelle zeigen.

Inhalt
In einer Novelle gibt es nur einen Handlungsstrang, in dem Fall erzählt der Ich-Erzähler von seiner Kindheit, genau genommen von der Zeit,

"als ich noch auf Bäume kletterte - lang, lang ist´s her, viele Jahre und Jahrzehnte, ich maß nur wenig über einen Meter, hatte Schuhgröße achtundzwanzig und war so leicht, daß ich fliegen konnte - nein, das ist nicht gelogen, ich konnte wirklich fliegen damals- oder wenigstens fast, oder sagen wir besser: es hätte seinerzeit tatsächlich in meiner Macht gelegen zu fliegen, wenn ich es nur wirklich ganz fest gewollt (...)" (S.1)

Assoziativ reiht der Erzähler seine wichtigsten Erlebnisse aneinander wie seinen schlimmer Sturz aus viereinhalb Meter Höhe, den er exakt nach den Fallgesetzen berechnet, der jedoch auch Folgen hinterlassen hat:

"Auch glaube ich, daß eine gewisse Konfusion und Unkonzentriertheit, an der ich neuerdings leide, eine Spätfolge jenes Sturzes von der Weißtanne ist. So fällt es mir beispielsweise immer schwerer, beim Thema zu bleiben (...)" (S.12)

Die meiste Zeit seiner Kindheit verbringt er auf Bäumen, von dort kann er alles überblicken und sieht so den seltsamen Herrn Sommer, dessen Frau Puppenmacherin ist und der selbst überall bekannt ist, da er permanent rastlos zu Fuß unterwegs ist. Auf seinen Spaziergängen kreuzen sich die Wege des Ich-Erzählers und die von Herrn Sommer - immer an einschneidenden Erlebnissen.
So trifft er Herr Sommer nach einer furchtbaren Klavierstunde, in der er sich den Zorn seiner Klavierlehrerin zugezogen hat - eine wunderbar detailliert geschilderte Szene - und beschlossen hat, sich aufgrund der Ungerechtigkeit der Welt von einem hohen Baum zu stürzen.
Bevor er den Sprung in die Tiefe wagt, sieht er Herrn Sommer, der versucht, sich unter dem Baum hinzulegen, jedoch keine Ruhe findet - genau das ist es jedoch, was er sucht. So sagt er zum Vater des Ich-Erzählers, als dieser ihn im Auto nach einem Hagelsturm mitnehmen möchte:

"Ja so laßt mich doch endlich in Frieden!" (S.39)

Den findet er am Ende der Novelle, wenn der Ich-Erzähler an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht.

Bewertung
Die Sprachsensibilität der Novelle spiegelt sich nicht nur in den geschaffenen Sätzen und Bildern, sondern Süskind thematisiert sie sogar, indem der Vater des Ich-Erzählers sich über "Stereotype" auslässt und dabei selbst einen benutzt:

"und ein Stereotyp - merkt euch das ein für allemal! - ist eine Redewendung, die schon so oft durch die Münder von Krethi und Plethi (!) gegangen ist, daß sie überhaupt nichts mehr bedeutet." (S.38)

Neben der Sprachfertigkeit ist es aber die skurrile Geschichte von Herrn Sommer und die seltsamen Erlebnisse des Ich-Erzählers, die faszinieren. Neben mathematischen Berechnungen der Fallgeschwindigkeit, gibt der Erzähler zu unzuverlässig zu sein, immer wieder den Faden zu verlieren. So setzt er ein paar Mal an, bis er vermeintlich die Geschichte von Herrn Sommer erzählt. Oder ist es die eigene? Gibt es Herrn Sommer überhaupt? Sein Ende ist jedenfalls sehr befremdlich und hat mich zu der Annahme verleitet, dass Herr Sommer sozusagen symbolisch die Kindheit des Ich-Erzählers begleitet und mit seinem Ende wird aus dem Kind ein Erwachsener. Dieses ruhelose, rastlose Herumwandern könnte bildlich für die Suche nach der eignen Identität stehen, der Wunsch Ruhe zu finden, dafür anzukommen in der Welt der Erwachsenen (?) Eine Novelle, die so schön sie zu lesen und anzuschauen ist, viel Stoff zum Nachdenken liefert und Fragen offen lässt. Die Antworten dürfen wir selbst suchen - ein Glücksfall!