Dienstag, 28. März 2017

Per J. Andersson: Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um dort seine große Liebe wiederzufinden

- eine wahre Geschichte.

Lesen mit Mira

Taschenbuch, 344 Seiten
Kiepenheuer &Witsch, 2. April 2015

Der Roman erzählt die wahre Geschichte des Inders Jagat Ananda Pradyumna Kumar Mahanandia, kurz Pikay genannt, der von Indien nach Schweden gereist ist, um seine große Liebe wiederzufinden.
Mira hat den Roman wegen des Titels gekauft, mich hat er sofort an den "Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg..." erinnert.
Es ist jedoch weder ein lustiger noch ein satirischer Roman, sondern eine berührender Lebensbericht, der sowohl die indische als auch die westliche Kultur differenziert betrachtet. Mira und ich sind uns einig, ein lesenswertes Buch!

Inhalt
Pikay wird als Sohn eines "Unberührbaren" und einer Frau aus dem Stammesvolk in einem Dorf in Indien, nahe des Dschungels Ende der 1940er Jahre geboren.
Am Tag seiner Geburt prophezeit ihm der Astrologe des Dorfes, dass er ein Mädchen heiraten wird, das nicht aus diesem Land stamme, musikalisch sei und einen Dschungel besitze. Pikay hält Zeit seines Lebens an dieser "Bestimmung" fest, sie ist seine Triebfeder, die ihm den Ausbruch aus seiner aussichtslosen Lage als Unberührbarer ermöglicht.

Die britischen Kolonialherren haben das besetzte Indien verlassen müssen und seltsamerweise verbindet der Vater mit den Briten positive Erinnerungen. Das mag damit zusammenhängen, dass die Briten Pikays Großvater zum "Chatai des Dorfes gemacht hatten - ein Titel, der verpflichtete" (S.70). Er war sozusagen der "Herrscher" des Dorfes und rechnete den Briten hoch an, dass sie ihn nicht wie einen Unberührbaren behandelten.
Von der Geschichte her ist diese Aussage eigentlich nicht zu verstehen, darüber habe ich mit Mira diskutiert. Die britischen Besatzer haben überwiegend mit den Hindus der ersten drei Kasten zusammengearbeitet, während die unterste und die "Unberührbaren" regelrecht ausgebeutet und unterdrückt wurden.

Währenddessen hat die neue indische Regierung Gesetze erlassen, die eine Diskriminierung der Kastenlosen, der Dalit, verbietet, die keiner der traditionellen 4 Kasten des Hinduismus angehören.
Doch die Realität des kleinen Pikay sieht anders aus. In seinem Dorf wird er von den Brahmanen, den hinduistischen Priester, vom Tempel verjagt, in der Schule muss er außerhalb des Klassenraums sitzen und darf niemanden anfassen, stets spielt er für sich allein, gehört er doch zu den Unreinen.

"An den Tagen, an denen der Schulinspektor zu Besuch kam, war alles anders. Der Inspektor sollte kontrollieren, ob die Schule die Gesetze Indiens befolgte, die besagten, dass niemand aufgrund seiner Kaste diskriminiert werden dürfe. (...) Die Gegenwart des Inspektors veranlasste den Lehrer und die Klassenkameraden, Pikay anders zu behandeln." (S.59)

Während also der kleine Pikay in der Schule leidet und nur der Schein gewahrt wird, wächst in der Schwedin Lotta "am anderen Ende der Welt" die Sehnsucht nach Indien.

Pikays Leidensdruck wird so stark, dass er sogar einen Selbstmordversuch unternimmt, doch sein Lebenswille siegt. Er beendet die Schule erfolgreich und da er ein begabter Künstler und Maler ist, gelingt es ihm, ein Stipendium für eine Kunsthochschule zu erlangen, so dass er sein Dorf und den Dschungel verlässt, um sich in der Großstadt Neu-Delhi durchzuschlagen.

"In der ersten Nacht in seiner neuen, schönen Welt schlief er tief und traumlos im fünften Stock des staatlichen Gästehauses. Am ersten Morgen stand er im Flur und sah aus dem Fenster, rieb sich die Augen und  verspürte Angst. (...) Plötzlich hatte er das Gefühl, am liebsten in die Geborgenheit, ins Bett, ins Dorf in Orissa, zur Familie zurückkehren zu wollen." (S.84)

Zu Beginn scheint alles gut zu gehen, doch dann erhält aufgrund der Korruption kein Schulgeld mehr und wird obdachlos. Sein Leben ist fortan vom nagendem Hunger bestimmt, so dass er seiner einzigen Geldquelle, dem Porträtzeichnen nicht mehr nachkommen kann. Erneut will er seinem scheinbar sinnlosen Dasein ein Ende setzen, als sich das Blatt für ihn zum Guten wendet.
Er lernt einen wohlhabenden Mitschüler kennen, Tarique, der ihn bei sich schlafen lässt - bis sein Vater, der Oberste Richter dies verbietet. Immer wieder stößt Pikay auf die offene Diskriminierung der Unberührbaren trotz der bestehenden Gesetze. In den Köpfen der Bevölkerung herrscht jedoch immer noch der Glaube an die Kastenzugehörigkeit.
Zufällig zeichnet Pikay die erste Frau im Weltall, Walentina Tereskowa, was ihm zu einigem Ruhm verhilft, so dass er sogar Indira Ghandi zeichnen darf, was ihm kurzfristig eine finanzielle Sicherheit gewährt.
Im Frühjahr 1975 ist Pikay der Springbrunnenmaler: "Ten Rupies, ten minutes" lautet seine Devise. Es ist der Ort, an dem er seine Zukünftige kennenlernt - Lotta aus Schweden, die mit einigen Freunden in einem alten VW-Bus nach Indien gereist ist.
Lottas Lebenseinstellung hat Mira und mich sofort angesprochen, so dass wir es unabhängig voneinander markiert haben:

"Trotz der christlichen Mutter und ihrer eigenen Neugier auf Yoga und die asiatischen Lebensphilosophien stand sie den Religionen kritisch gegenüber. Sie war Humanistin. Das musste genügen. Alle Menschen hatten dieselbe Lebensenergie, ganz gleich, woher sie stammten und wie ihre Hautfarbe war. Wenn man so denkt, ist es unmöglich, rassistisch zu sein, meinte Lotta." (S.128)

Doch Lotta kehrt nach Schweden zurück und obwohl sie Pikay liebt, lässt sie sich von ihrer Mutter überzeugen zu warten. In seiner Verzweiflung macht sich der junge Inder auf den Weg nach Schweden, mit dem Fahrrad fährt er Ende 1976 auf dem Hippie-Trail gen Westen und stößt auf Hindernisse, die seiner Liebe entgegenstehen. Aber nichts scheint ihn aufhalten zu können...


Bewertung
Mira und ich sind uns einig, ein lesenswerter Roman, der viele Weisheiten enthält, die wir alle gar nicht aufschreiben können. Ein Roman, der einen Einblick in die indischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ermöglicht und der unterschiedliche Lebenswelten in diesem Land schildert: das Dorf Orissa und die Großstadt Neu-Delhi. Der einen differenzierten Blick auf die indische und westliche Kultur wirft und aufzeigt, dass Diskriminierung und Rassismus, aber auch Menschlichkeit und Nächstenliebe in jeder Kultur und Nationalität verankert sind. Pikay wird aufgrund seiner Herkunft in Indien ausgegrenzt, erfährt aber auch Anerkennung und Achtung. Auf seiner langen Reise durch Afghanistan, den Iran und die Türkei schildert er, wie gastfreundlich er behandelt wird. Wie er gegen eine Zeichnung zum Essen eingeladen wird, eine Unterkunft für die Nacht erhält. Das ist in unserer westlichen Kultur fast undenkbar, oder?
Eine Freundin in Wien warnt ihn daher vor "Europa":

"Pikay, sagen sie, du bist ein guter Mensch, du machst Menschen gut. Aber du kennst Europa nicht. In Europa ist die Mitmenschlichkeit ein aussterbendes Gut. In Europa werden die Taten der Menschen von Angst und nicht von Liebe gesteuert." (S.275)

Fast scheitert er an der westdeutschen und schwedischen Grenze. Interessant ist auch die Szene, in der Pikay erkennt, wie schwierig es ist, seinem Ursprung zu entfliehen, obwohl er schon eine Zeit lang in Schweden lebt.

"Die Umgebung findet, Pikay solle doch Yoga-Unterricht geben, auch wenn er beteuert, auf diesem Gebiet kein Experte zu sein. Doch die Erwartungen hängen ihm an, und die Angebote, Kurse zu leiten, häufen sich." (S.302)

Das Klischee haftet an ihm und den Vorurteilen, auch wenn sie hier freundlich gemeint sind, kann er nicht entkommen.

Ein lesenswerter Roman, an dem mich nur gestört hat, dass die Figuren aufgrund der Erzählform (Er-Form), fast ausschließlich aus der Sicht Pikays und der wenigen Dialoge und Szenen, auf Distanz bleiben. Ich habe - anders als Mira - länger gebraucht, um in den Roman eintauchen zu können und hätte mir weniger Zusammenfassungen und mehr "Einzelaufnahmen" gewünscht, die einen ins Geschehen hineinziehen. Das mag daran liegen, dass der Autor Reisejournalist mit dem Schwerpunkt Indien ist, was andererseits seine herausragenden Kenntnisse über das Land und seinen differenzierten Blick auf die Kultur erklärt.
Hier geht es zu Miras Rezension.





Donnerstag, 23. März 2017

Jojo Moyes: Im Schatten das Licht

- trivial, enttäuschend und vorhersehbar.

Taschenbuch, 576 Seiten
Rowohlt, 27.Januar 2017
Im Original bereits 2009 unter dem Titel "The Horse Dancer" erschienen.

Vielen Dank an Rowohlt für das Rezensionsexemplar, hier geht es zur Buchseite des Verlages.

Inhalt
Die 14-jährige Sarah lebt bei ihrem Großvater Henri in London, der sich gemeinsam mit ihrer Großmutter Florence, die inzwischen ebenso wie ihre Mutter verstorben ist, liebevoll um sie gekümmert haben, da ihre Mutter dazu nicht in der Lage gewesen ist.
Das Verhältnis zu ihrem Großvater ist geprägt von ihrer gemeinsamen Liebe zu den Pferden. Henri - einst Mitglied des Cadre Noir, einer militärische Eliteschule für die Pferdedressur, hat für seine große Liebe diese verlassen und ist Florence nach England gefolgt. Ein Schritt, der sein Leben entscheidend geprägt hat, eine Rückkehr war aufgrund der Erkrankung seiner Frau später nicht mehr möglich.
So überträgt er seinen großen Traum auf seine Enkeltochter, indem er ihr ein begabtes Pferd, Boo, kauft und die beiden fast täglich trainiert. Das Tier ist einem Stall in der Stadt untergebracht, eine Erfahrung, die Jojo Moyes selbst gemacht hat. Auch sie hat inmitten der Großstadt geritten.
Das entbehrungsreiche, aber geordnete Leben Sarahs gerät außer Kontrolle, als ihr Großvater einen Schlaganfall erleidet. Zufällig trifft sie auf die Anwältin Natasha, die auf "Kindeswohl" spezialisiert ist. Ihr Leben ist zurzeit ebenfalls außer Kontrolle, da ihr Exmann, von dem sie sich getrennt hat, nach einem Jahr plötzlich wieder im gemeinsamen Haus auftaucht, da er eine Bleibe braucht und die Dinge zwischen ihnen regeln will. Von Anfang an spürt man, dass beide sich lieben, jedoch nicht in der Lage sind, über ihren Schatten zu springen. Der charmante, gut aussehende Fotograph Mac scheint dazu eher bereit zu sein als die abweisende, kühl wirkende Natasha.
Spontan entschließt diese sich, als sie Sarahs Lage realisiert, das Mädchen aufzunehmen. Eine Farce beginnt, denn das Ex-Paar spielt plötzlich heile Familie, vor dem Jugendamt und auch vor Sarah, was diese zwangsläufig durchschauen muss und sich daher vor beiden verschließt.
Als sie im Pferdestall auch noch mit einem neuen, unfreundlichen Besitzer konfrontiert wird, der ihre Schulden auf besondere Weise erstattet haben möchte, flieht sie mit Boo und macht sich auf den Weg zum Cadre Noir, um ihren Traum zu verwirklichen.
Mac und Natasha folgen ihr und man braucht keine Prophetin zu sein, um vorherzusagen, dass sich am Ende nach vielen Irrungen und Wirrungen alles in Wohlgefallen auflösen wird.

Bewertung
Den ersten Roman, den ich von Jojo Moyes gelesen habe, war "Ein ganzes halbes Jahr", der mich aufgrund seiner ernsten Thematik - Unter welchen Umständen sollte ein Mensch seinen Tod selbst bestimmen dürfen? - lange beschäftigt hat. Die Liebesgeschichte hat mich berührt, auch wenn mir bewusst war, dass es sich letztlich vor allem sprachlich um Unterhaltungsliteratur handelt.
Die Fortsetzung fand ich weniger überzeugend. "Ein Bild von dir" und "Über uns der Himmel, unter uns das Meer" sind letztlich ebenfalls Liebesromane, deren ernsthafte und gut recherchierte Geschichte jedoch überzeugen können. Letztlich weiß ich, worauf ich mich bei Moyes einlasse. Eine Liebe, die vor unlösbaren Aufgaben zu stehen scheint, sich jedoch nach vielen Hürden, Umwegen und Hindernissen wieder findet. Das ist im vorliegenden Roman nicht anders. Im Gegensatz zu den genannten Vorgängern fehlt jedoch eine Erweiterung der Liebesgeschichte um ein ernsthaftes Thema oder einen interessanten zeitgeschichtlichen Einblick, wie die Verschiffung australischer Bräute nach England in "Über uns der Himmel, unter uns das Meer" oder die Besetzung Frankreichs im 2.Weltkrieg in "Ein Bild von dir". Die Einblicke in die renommierte Pferdeakademie Cadre Noir sind zwar ebenso interessant wie die autobiografische Dimension oder die Entwicklungsgeschichte Sarahs, sie tragen die Geschichte aber nicht über einen trivialen Liebesroman hinaus.
Ich persönlich bin enttäuscht, da weder die Figuren überzeugen noch das Ende mit all seinen "künstlichen" Hindernisse, wobei man die ganze Zeit genau weiß, dass am Ende alles gut wird. Die Geschichte ist extrem vorhersehbar und zumindest das war bei den Vorgängerromanen nicht so offensichtlich der Fall, schade - definitiv mein letzter Moyes-Roman!

Sonntag, 19. März 2017

Katarina Bivald: Ein Buchladen zum Verlieben

- ein Roman über Bücher, der unterhält, aber allzu vorhersehbar ist.

Taschenbuchausgabe, 447 Seiten
btb, 13.Juni 2016

Vielen Dank an das Bloggerportal, das mir den Roman zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Die 28-jährige Sara aus Schweden reist 2011 im September in die USA, nach Iowa in ein verschlafenes, fast ausgestorbenes Nest namens Broken Wheel, um ihre Brieffreundin, die 65-jährige Amy zu besuchen, mit der sie seit 2 Jahren eine Brieffreundschaft verbindet.
Die Briefe von Amy an Sara, die zwischen innerhalb der Handlung eingestreut sind, handeln vorwiegend von Büchern, aber auch von den Bewohnern Broken Wheels. Nachdem Sara ihren Job in einem Buchladen in Stockholm verloren hat, lädt Amy sie ein und Sara ergreift die Chance einer Auszeit. Mit ihrer Heimat verbindet sie nur wenig, sie hat ein eher distanziertes Verhältnis zu ihren Eltern und ihrer Schwester und auch nur wenige Freunde - keine Beziehung. Sie scheint vorwiegend in Büchern zu leben und zieht diese den Menschen vor.
Als sie in Broken Wheel ankommt, gerät sie auf Amys Beerdigung und ist zunächst von der Situation überfordert.
Amys Freunde überreden sie in ihrem Haus zu bleiben und die zwei Monate trotzdem in der Stadt zu verbringen.
Sara entdeckt in Amys Schlafzimmer eine große Auswahl an Büchern.

"Amys Zimmer war eingerichtet wie die Bibliothek aus Saras Träumen. (...) An allen Wänden: Bücherregale. Der Nachttisch bestand aus einem Bücherstapel. Das oberste ein Fotoband mit Luftaufnahmen von Iowa, wies auf dem Umschlag die Abdrücke eines Glases auf." (S.69)

Nach längeren Überlegungen entschließt sie sich in Broken Wheel, wo offenkundig niemand am Lesen interessiert ist, im ehemaligen Laden von Amys Mann einen Buchladen mit Amys Büchern zu eröffnen. Sie glaubt, es sei im Sinne ihrer Freundin und wird von den Bewohnern unterstützt. Allen voran von dem armen George, der von seiner Frau und Tochter verlassen und zum Alkoholiker wurde, seit wenigen Monate aber trocken ist. Er wird Saras Chauffeur und hilft ihr, den Laden auf Vordermann zu bringen, den sie wie ein gemütliches Wohnzimmer einrichtet.
Die Besitzerin des gegenüberliegenden Diners, Grace, eine tatkräftige Frau, die Waffen liebt, steht ihr anfangs ebenso wie John, Besitzer des Lebensmittelgeschäftes und Amys bester Freund, eher kritisch gegenüber.
Amys Freundin, die disziplinierte Caroline dagegen unterstützt ihr Vorhaben. Sie ist in der Kirche aktiv, knapp über 40, ledig und sagt allen ungeschminkt, was sie denkt. Auch Andy und sein Freund Carl, die eine Kneipe führen, sind auf Saras Seite, ebenso wie die verheiratete Jen, die den Nachrichtenbrief der Stadt herausgibt, in dem normalerweise nichts Sensationelles zu lesen ist, bis zwei Jugendliche Sara eines Nachmittags durch das Schaufenster des Buchladens beim Lesen beobachten. Sie wagen das Experiment, die Zeit zu stoppen, wie lange sie ohne aufzublicken weiter liest. Es werden fast 6 Stunden.

"Im Laufe des Nachmittags wuchs die Gruppe vor dem Fenster immer weiter an. Als Jen und ihr Mann vorbeikamen, waren sie schon zu zehnt." (S.161)

Immer mehr Menschen versammeln sich, bis ein richtiges Straßenfest entsteht, das Broken Wheel vereint. Der folgende Nachrichtenbrief verbreitet sich auch in der Nachbarstadt, so dass am nächsten Wochenende viele Auswärtige den Buchladen besuchen. Da dürfen Broken Wheels Bewohner natürlich nicht zurückstehen und tun so, als ob sie eifrige Leser/innen seien  und sorgen damit für viele witzige Szenen.
So verändert Sara unbewusst das Leben der Stadt - bis ihr Touristenvisum ausläuft und alle eine naheliegende Lösung suchen, so dass sie bleiben kann, in der der gut aussehende Jungselle Tom ein nicht unerhebliche Rolle spielt....

Bewertung
Ich mag Bücher, die von Büchern und Buchhandlungen erzählen, außerdem skandinavische Literatur, gleich zwei Gründe nach dem vorliegenden Roman zu greifen. Meine Erwartungen wurden jedoch nur teilweise erfüllt. Von anderen Büchern wird recht viel erzählt, gleich eines der ersten Jugendbücher, die angesprochen werden, habe ich selbst als junges Mädchen mehrfach gelesen: Betty und ihre Schwestern. Auch vielen anderen Bekannten bin ich begegnet...
Gefallen hat mir die sympathische Protagonistin Sara, die das Leben der Bewohner Broken Wheels mit ihrem Buchladen und ihrer Einstellung, für jeden gebe es das richtige Buch, ins Wanken bringt.

"Er (Tom) dachte an Sara, an den Buchladen und den Basar (...) und an eine Hauptstraße, die wieder zu leben schien, als sein sie plötzlich immer in Sonne gebadet, an eine Stadt, die in wenigen Wochen von Schwarzweiß und leuchtendes Technicolor übergegangen war." (S.398)

Allein durch ihre unaufdringliche Anwesenheit und die Bücher, die sie an die Bewohner verteilt, bricht sie deren gewohnte Denkmuster und Verhaltensweisen auf.
An Vorurteilen und Problemen innerhalb der Stadt spart die Autorin dabei nicht: ein homosexuelles Pärchen, eine ältere, selbst disziplinierte Frau und ein bisexueller jüngerer Mann verlieben sich, ein trockener Alkoholiker kümmert sich um eine viel jüngere Alleinerziehenden, die sich ebenfalls in ihn verliebt und am Ende löst sich in Wohlgefallen auf. Das ist ein bisschen zu viel des Guten.

Und Sara selbst erlebt, dass das Leben mehr zu bieten hat, als nur Bücher zu lesen und findet ihre große Liebe.

Die Vorhersehbarkeit der Geschichte und das "typische" Happy End, in dem wirklich alle (!) Handlungsfäden ein glücklichen Ausgang finden, machen die ganze Story unglaubwürdig und unrealistisch, aber das will sie, glaube ich, nicht sein.
Sondern ein romantischer Unterhaltungsroman, eine Liebeserklärung an Bücher, aber auch an die Bewohner einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA.
Ein Buch für zwischendurch - nett, aber nicht mehr.

Dienstag, 14. März 2017

Ian McEwan: Am Strand

- die Hochzeitsnacht.


Hörbuch von audible
gelesen von Jan Josef Liefers
4 Stunden, 38 Minuten

Inhalt
Großbritannien, 1962: Das junge Paar Florence und Edward sitzen in einer Hotelsuite am Strand von Dorset in Erwartung ihrer Hochzeitsnacht am Tisch und gerade wird ihnen ihr englisches Abendessen serviert.
Währenddessen dürfen wir dürfen ihren Gedanken zuhören, denn die gesamte Handlung des Romans, die - bis auf einige Rückblicke - an jenen Abend spielt, besteht fast ausschließlich aus innerer Handlung. Abwechselnd werden wir Zeuge von Edwards und Florence innerem Monolog, ihren Ängsten, ihren Unsicherheiten, und dem, was sie nicht zu sagen und tun wagen und den daraus resultierenden Missverständnissen.

Während Edward ungeduldig der Hochzeitsnacht entgegenfiebert, hat Florence ungewöhliche Gefühle angesichts der bevorstehenden Vereinigung. Sie empfindet tiefe Liebe für ihren Ehemann, in dem sie eine Art Seelenverwandten erkannt hat, jede körperliche Annäherung verursacht ihr jedoch ein Ekelgefühl. Beim Küssen glaubt sie zu ersticken und allein der Gedanke an die Penetration löst einen Brechreiz bei ihr aus. Sie weiß, dass sie mit dem Ehegelöbnis ihre Einverständnis für die körperliche Vereinigung gegeben hat und möchte diese hinter sich bringen.

Edward hingegen hat in den letzten 18 Monaten behutsam auf dieses Ziel hingearbeitet und bietet seine ganze Zurückhaltung auf, um Florence nicht zu erschrecken.

Bevor wir uns mit dem Paar auf dem Himmelbett wiederfinden, erfahren wir im Rückblick, wie die beiden sich zufällig auf einer Demonstration gegen die Atombombe in ihrer Heimat Oxford kennengelernt haben und etwas über ihren familiären Hintergrund.
Während Florence Mutter Philosophiedozentin, ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, ihre Familie als wohlhabend bezeichnet werden kann, ist Edwards Vater Schuldirektor einer Grundschule und seine Mutter "hirngeschädigt". Ein Umstand, den die Familie vor ihr selbst verbirgt, obwohl der Haushalt im Chaos zu ertrinken droht.

Edwards Wunsch Geschichte in London zu studieren, gleicht einer Flucht aus den Verhältnissen. Obwohl Florence ebenfalls in London Musik studiert hat, haben sich ihre Wege nicht gekreuzt - bis zu jener Demonstration. Florence Heim erscheint Edward wie ein Wunder und er fühlt sich in der Familie wohl und akzeptiert. Ein Posten in der Firma ihres Vater ist in Aussicht.

Zurück in der Hochzeitssuite hat es das junge Paar bis auf das Bett geschafft und der folgende "Schlamassel" zwingt die junge Braut zur Flucht an den Strand. Nachdem Edward ihr gefolgt ist und die beiden endlich "ungeschminkt" und frei miteinander reden, unterbreitet Florence ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag, der ihr beider Leben verändert.

Bewertung
Inzwischen bin ich ein großer Anhänger Ian McEwans, dessen genaue Beobachtungsgabe und Fähigkeit, das Beobachtete sprachlich präzise auf den Punkt zu bringen, seinesgleichen sucht. Seine Sensibilität, seine Empathie, die Fähigkeit die Gedanken des jungen Mannes und der jungen Frau schonungslos offenzulegen, ohne seine Protagonisten bloßzustellen, sind bewundernswert.

Die Situation im Schlafzimmer auf dem Bett zum Beispiel, wenn es Edward nicht gelingt den Reißverschluss von Florence Kleid zu öffnen, ist komisch, ohne Edward als Idioten dastehen zu lassen. Es ist genau so beschrieben, wie es hätte sein können, mit all dem Ungesagten zwischen dem Paar.
Die Erkenntnisse, zu denen beide nach dem Schlamassel gelangen, sind Teil einer jeden Beziehung - das Wissen, dass man unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Bedürfnisse haben darf und muss.
Dass man eben kein gemeinsamer Organismus ist, sondern beide unterschiedlich empfinden, obwohl sie sich lieben. Sich dies einzugestehen und darüber zu reden, ist heute vielleicht selbstverständlich. Doch zu Beginn der 1960er sicherlich kein Konversationsthema zu Beginn einer Ehe.
Das, was in den Protagonisten abläuft, glaubhaft sichtbar zu machen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorstellungen, auszudrücken, ist Ian McEwan hervorragend gelungen.

Der Roman ist, obwohl er kaum äußere Handlung, eigentlich keine "Action" enthält, spannend, weil man mit den Figuren leidet, ihren Gedanken und Gefühlen folgt und wissen möchte, wie sie aus dieser Situation herauskommen.

Eine klare Lese- bzw. Hörbuchempfehlung, überzeugend gelesen von Jan Josef Liefers.

Sonntag, 12. März 2017

Tessa Korber: Die Katzen von Montmartre

- ermitteln in einem Mord- und Entführungsfall.


Taschenbuch, 254 Seiten
btb, November 2016

Vielen Dank an das Bloggerportal, das mir das Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Auf dem Friedhof des Montmartre ist ein junges Mädchen ermordet worden, dessen Familie dort begraben ist - neben der letzten Ruhestätte Heinrich Heines. Außerdem ist die beliebteste Katze Grisette offensichtlich entführt worden.
Sie gehört Madame Chauchat, Besitzerin eines Zeitungskiosk, ehemals Prostituierte. Sie gehört zum inneren Kreis des echten Montmartre, abseits der Touristenströme, genau wie Madame Valladon, die eine Patisserie betreibt. Sie hat eine schwere Bürde zu tragen, da ihr Vater an einem grausamen Mord beteiligt war und voller Reue lange im Gefängnis gesessen hat. Täglich besucht sie sein Grab und trifft dabei auf den Friedhofskater Bonnard, den Trostkater, da alle ihn streicheln und sich ihm anvertrauen.
So behält er den Überblick über sein Viertel, zu dem auch der schwarze, unabhängige Kater Dégas gehört, der eine Suche nach Grisette mobilisiert. Dabei helfen auch Suzanne, die Katze von Madame Valladon, sowie Pablo und Miró, ihre beiden Kinder, zwei jugendliche Abenteurer, die im Bistro von Monsieur Moulin leben.
Um die Riege der berühmten französischen Maler zu ergänzen, fehlt noch der Kater Matisse aus dem Andenkenladen Monsieur Martis. Matisse hat einen schwarzen, heimatlosen Einwandererjungen ausfindig macht und möchte ihn gegen die Néons verteidigen, die Schutzgelder von den Malern und Andenkenverkäufern vor Sacre Coeur erpressen.

Neben dem Jungen taucht auch noch ein Maler auf, der sich in einer Gruft auf dem Friedhof einquartiert. Hat er mit dem Mord zu tun? Und welche Rolle spielt der junge Künstler Emile, der im Bistro arbeitet? Der ermittelnde Commissaire Bonenfant hat schließlich einen Verdacht, wer das junge Mädchen ermordet haben könnte, aber es sind die Kater und Katzen, die beide Fälle schließlich lösen.

Bewertung
Ein sehr unterhaltsamer Krimi, der größtenteils aus der Perspektive der Kater und Katzen erzählt wird. Wir erfahren, wie gut diese Tiere riechen können und die Anwesenheit anderer wahrnehmen. Natürlich handeln und erscheinen sie bei alldem allzu menschlich. Ihre Reflektionen über das Leben, die Liebe und die Kriminalfälle neben ihrem Katzendasein machen ebenso wie die Darstellung des "wahren" Montmartre den Charme dieses Kriminalromans aus. Der Mordfall selbst wirkt ebenso konstruiert, wie die allzu harmonische Auflösung am Ende, an dem wirklich alle Fäden zusammenlaufen und es für jeden ein Happy End gibt. Gut, dass die Katzen im Vordergrund stehen ;)

Ein lockerer, leichter und unterhaltsamer Krimi für Katzenfreunde!

Donnerstag, 9. März 2017

Mário de Andrade: Senhorita Elsa

Die Schule der Liebe.

gebundene Ausgabe, 285 Seiten
Louisoder, 22. Februar 2017

Vielen Dank an den Louisoder Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Fräulein Elsa Schumann, gebürtig aus Deutschland, lebt seit 18 Jahren in Brasilien. Als junges Mädchen hat ihre Tante sie in Sao Paulo aufgenommen. Nach einer kurzen glücklichen Ehe mit einem Deutschen, der jedoch auch noch eine Ehefrau in der Heimat hatte, übt sie -inzwischen 35 Jahre alt- einen besonderen Beruf aus.
Sie unterrichtet heranwachsende Männer in der Liebe, nicht nur in der körperlichen, sondern auch in der geistigen. Gebucht von deren Vätern wollen diese verhindern, dass sich ihre Söhne den Prostituierten hingeben und dem Laster verfallen. Statt dessen sollen sie sich in Fräulein verlieben und wahre Gefühle und partnerschaftliche Liebe kennen lernen.

"Sie unterrichtete Kinder, junge Männer und hatte nie irgendwelche Selbstzweifel wegen der moralischen Implikationen, die ihre Unterweisungen mit sich brachten. Sie lehrte sowohl das Geistige als auch das Körperliche, keines existierte ohne das andere. So war es immer gewesen, und sie war rein, das wusste sie." (S.35)

Der Roman erzählt ihren Aufenthalt im Hause Sousa Costas, in dem die Leidenschaft zwischen dem Ehepaar offensichtlich erloschen ist.

"Die ältere Generation lateinamerikanischer Frauen war so passiv, so gleichgültig gegenüber allem, was außerhalb der engen Begrenzungen ihres eigenen Lebens vor sich ging." (S.19)

Fräulein Elsa sprengt diese Grenzen mit ihrer Tätigkeit. Offiziell unterrichtet sie die jüngeren Töchtern der Familie in Deutsch und erteilt Klavierunterricht. Ganz behutsam nähert sie sich dem Sohn des Hauses, dem jungen Carlos und entflammt dessen Leidenschaft, dabei ist sie nicht wirklich schön.

"Fräulein war nicht wirklich hübsch. Aber sie war gerade gewachsen, und ihre Gesichtszüge waren rosig und blass wie Erdbeeren mit köstlicher Sahne. (...) Ihre Lippen waren vielleicht ihr attraktivster Gesichtszug. Der Mund war nicht breit, aber die Lippen recht voll und immer von einer Röte, die auf eine gesunde Blutzirkulation in ihren Venen schließen ließ. Auch ihr Lächeln war hübsch, und wenn sie lachte, zeigten sich kleine weiße Zähne." (S.30f.)

Eine Bedingung ihrer Tätigkeit ist, dass die Eltern in ihr Vorhaben eingeweiht sind. Felizberto jedoch hat seiner Frau den wahren Grund für den Aufenthalt des Fräuleins verschwiegen, so dass Elsa ihm ankündigt zu gehen, sollte er es seiner Frau nicht beichten. Es ist ihr wichtig, nicht als Prostituierte angesehen zu werden, sondern sie ist gekommen,

"um Carlos in der Liebe zu unterweisen, so wie es sein sollte." (S.74) 

Dieser Argumentation kann sich auch Sousa Costas Frau nicht entziehen und so stimmt sie zu, dass Fräulein bleiben solle, um Carlos vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren.

Fräulein, die sehr belesen ist und in Sao Paulo mit Künstlern, Schriftstellern und Musikern sowie Professoren verkehrt, träumt von einem Leben in Deutschland, dafür spart sie das Geld, das sie mit ihrer Tätigkeit verdient:

"Sie würde weitere acht Contos verdienen, und wenn sich die Zustände in Deutschland verbesserten, könnte sie nach ein oder zwei weiteren Diensten dorthin zurückkehren und Brasilien und Sao Paulo für immer hinter sich lassen. Diese Rückkehr in die Heimat würde ihr das lang ersehnte kleine Haus bringen...Sicherheit...und Karl. Er würde Karl heißen - da war sie sich sicher-, und sie würde ihn heiraten. Vor ihrem inneren Auge erschien langsam diese ideale Figur, die sich in jahrelangen Träumen herausgebildet hatte." (S.13)

Einer der jungen Professoren, die sie bei Frau Köthen, Lehrerin für Klavier, trifft, verehrt sie und teilt ihre Liebe zur Literatur und Musik, doch wird sie sich von ihren Träumen lösen können? Wird er ihren Beruf akzeptieren können?
Auch die Stärke des jungen Carlos hat es ihr angetan und manchmal glaubt sie, sie liebe ihn. Aber könnte eine solche Bindung eine Zukunft haben? Oder muss sie ein schmerzhaftes Ende herbeiführen, damit er seine Lektion lernt?

Bewertung
Der Roman ist erstmals im Jahre 1927 erschienen, 1933 in der englischen Übersetzung. Eine Zeit, in der der Inhalt des Romans sicherlich gesellschaftliche Konventionen überschritten hat. Glücklicherweise liegt er jetzt in der deutschen Übersetzung vor, so dass wir das moderne Liebesverständnis Fräulein Elsas miterleben dürfen.
Dabei wahrt der Roman stets die Grenzen des Anstands, der Liebesakt selbst wird immer ausgespart, lediglich die Küsse und leidenschaftlichen Gefühle werden hauptsächlich aus der personalen Perspektive des Fräuleins, aber aus der Sicht Carlos geschildert.
Fräulein erscheint im Roman durchweg als positive Figur, mit der man als Leser/in mitleidet, mitfiebert und - leidet, sobald man erkennt, dass sie sich aufgrund ihrer Träumereien und auch Naivität ein glückliches Leben, eine Ehe in Brasilien verwehrt. Ihre teilweise stereotypen Ansichten über die Deutschen oder die Brasilianer wirken etwas antiquiert, sind jedoch wahrscheinlich der damaligen Einstellung geschuldet. (Sind deutsche Kellner wirklich so schrecklich?)

Der Originaltitel lautet bezeichnenderweise, "Amor, Verbo Intransitivo". Also "Lieben, ein intransitives Verb", das bedeutet, ein Verb, das kein direktes Objekt binden kann.
So wie Fräulein zwar die wahre Liebe unterrichtet, aber nicht in der Lage ist, sich an einen einzigen Mann zu binden. Ihre Aufgabe ist es, ihre Vorstellung von Liebe zu lehren.

Der Gedanke der körperlichen und geistigen Liebe, der zwei Seelen, die miteinander verschmelzen, findet sich auch im Klassiker "Faust", kein Wunder, dass Fräulein Elsa Goethe und Schiller verehrt, aber auch moderne Literatur, wie den Expressionismus, liest, wobei sie zugibt, Bücher und Zeitschriften zu verschlingen, ohne sie wirklich zu verdauen.
Neben der Hommage an die Klassiker der deutschen und französischen Literatur ist der Roman aber auch eine Liebeserklärung an die Musik, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass Mario de Andrade neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch ein Musikforscher und Wunderkind am Klavier gewesen ist.


Ein innovativer, unkonventioneller "Liebes-Roman" mit einer starken Protagonistin, der hoffentlich viele Leser/innen finden wird.

Sonntag, 5. März 2017

Emma Braslavsky: Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen

"Er nennt´s Vernunft und braucht´s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein."
(Mephisto zum Herrn in Goethes Faust, Der Tragödie erster Teil)


gebundene Ausgabe, 462 Seiten
Suhrkamp, 16. September 2016

Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir diesen außergewöhnlichen Roman als Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Inhalt
Dem Roman vorangestellt ist ein aussagekräftiges Piktogramm sowie alle Figuren, die im Roman auftauchen, was bei der Fülle der Personen sehr hilfreich ist.


Der Roman besteht aus unterschiedlichen Teilen, die zunächst scheinbar nichts miteinander zu tun haben und spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft.

Den Anfang bilden das Ehepaar Jivan Haffner Fernándes und Jo Lewandowski Fridmann, sie eine "Besser-Welt-Aktivistin" (S.9), die von Organisation zu Organisation hüpft, er ein als Feminist getarnter Macho, der seine Frau geschickt manipuliert und letztlich von seinen Hormonen und "tierischen" Instinkten gesteuert wird.
Er ist Architekt, entwirft unterirdische Bunkeranlagen und erhofft sich einen Auftrag von der Sécurité Suisse, da er aufgrund seiner Spielsucht kurz vor der Pleite steht.

"Mit dem Erwerb der weltweiten Lizenz für die Verpachtung von unterirdischem Grund und Boden, und das war Jivans Idee, begann eine neue Erfolgsgeschichte unter der Firmierung Sécurité Suisse (SS). Überall auf der Welt pachteten reiche Menschen Raum und ließen sich abgeschirmte Safeanlagen bauen. Die verschärften Steuergesetze könnten Jivan eigentlich Aufträge auf Jahrzehnte sichern. Wenn sich die SS nur endlich zu diesem Großauftrag durchringen könnte." (S.59)

Eine Folge dieser verschärften Gesetze sind 15% Staatenlose, die sich Steuern verweigern, bei 10 Milliarden Menschen insgesamt, die immer älter werden und das ewige Leben scheint auch schon möglich - zumindest für den großen Geldbeutel.
Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten mit den zu erwartenden Folgen wie Dürren und Wirbelstürme. Auf der Welt agieren viele Organisationen, die sich einer besseren Welt verschrieben haben, u.a. BetterPlanet und Animal Rights.
Aus der personalen Perspektive erleben wir mit Jivan, der sich vorab mit einem Kebab gestärkt und seine lieb gewonnene Ledertasche in einem Gebüsch versteckt hat,  das gemeinsame Abendessen zwischen Jo und ihren neuen Arbeitgebern Achim und Kim von Animal Rights - herrlich satirisch auf die Spitze getrieben.

"Mit entspannter Zurückhaltung, tierlieb und mit proteingesättigtem Großmut, mit dem Vorsatz, sich seiner Frau zuliebe charmant und geistreich zu geben, auf keinen Fall über Geld oder Fleisch zu reden, nähert er sich der Abendgesellschaft. Er weiß, Jo will die Position als PR-Chefin bei Animal Rights unbedingt, und er will auch, dass sie sie kriegt." (S.19)

Gleich im ersten Kapitel sind mir die Sprachgewandtheit, die sich den jeweiligen Protagonisten anpasst, und die ungewöhnlichen Metaphern aufgefallen, die den Roman durchziehen.

"Jivan ist ein Mann, dessen Gehirn immer wenn jemand in seiner Nähe zu viel redet, von störenden Textketten gehackt wird, die wie Sabotageeinheiten in seine Gedanken einfallen, dann wie Schlangen quer durchs Feld ziehen und sich einen Weg zur Zunge bahnen wollen." (S.22)

Jos Einstieg bei Animal Rights hat zur Folge, dass sie - eine Tantra-Meisterin - was Jivan am meisten an ihr schätzt, auf Sex vorläufig verzichten will. Das muss er natürlich ändern und manipuliert sie so, dass sie wieder zu Tanner und BetterPlanet zurückkehrt - im Gepäck eine geniale Idee, die mit einer neu entstandenen Insel zu tun hat.

Ein wortgewaltiges Kapitel beschreibt wie sich "Schwärme von Wassermolekülen aus dem brütenden Ozean [lösen]" (S.34) und zum "Frankenstorm Tony" zusammenballen, der lebensspendende Moleküle auf ein einst unwirtliches Riff lenkt, so dass dort eben jene neue an Fauna und Flora reiche Insel entsteht, die Begehrlichkeiten weckt und großes Interesse in den N=Global - Nachrichten weckt, dessen Meldungen ebenfalls in regelmäßigen Abständen ein Bestandteil des Romans sind und satirische Bezüge zur Gegenwart haben, ebenso wie der dazugehörige Blog, in dem über die Herkunft und Zugehörigkeit der Insel spekuliert wird.

Eine weiterer Handlungsstrang erzählt von No und Jule - zwei jungen Aussteiger, die einer einsamen Bucht (auf der neuen Insel?) leben - in Form eines Notizbuches. No gibt darin seine Eindrücke des Paradieses wieder und berichtet von den Schwierigkeiten der Zivilisation zu entkommen und den Unstimmigkeiten zwischen dem Paar.
Symbolisch lässt er Steine die Dialoge zwischen ihnen beiden nachsprechen.


Auch Jivans Vater - Lautaro Álvaro - kommt zu Wort, getreu nach dem Motto des Erfinders eines neunteiligen silbrigglänzenden Zylinder, in dem man Dokumente für seine Nachfahren vom Sohn bis zum Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkelsohn hinterlässt, schreibt er die Geschichte der Familie um.

"Wenn man bedenkt, welchen Einfluss die Vergangenheit auf das Leben der Nachgeborenen hat, ist es unverantwortlich, die Wahrheit über die Geschichte unserer Vorfahren nur auf Fakten beruhen zu lassen." (S.44)

So ist Jivan selbst ein Betrogener, dessen deutsche Mutter, eine Doktorandin der Kulturwissenschaft vom Casanove Lautaro Álvaro geschwängert wurde. Um sich alle Optionen auf seinen Sohn zu erhalten, der ihn zumindest berührt hat, zahlt Lautaro Wilma Haffner bis zu ihrem Unfalltod Geld, damit sie kein schlechtes Wort über ihn oder die Familie verliert.

"Jivan wusste nichts von deren jahrhundertelanger Blutrünstigkeit und Raffgier, die erst durch die beharrliche Einwirkung von Marihuana und linken Parolen so gut wie gestoppt worden war, nicht von der darauffolgenden, nennen wir es: Orientierungslosigkeit und nichts davon , dass die Familie durch eine neu erfundene Chronik und eine dementsprechend neue Selbstdarstellung vor dem vollständigen Untergang bewahrt werden soll." (S.47)

Fehlt noch die zweite Protagonistin des Romans, die 19jährige Roana. Sie hat offensichtlich gerade eine Katastrophe überlebt, sitzt an einem Strand, ist schwanger, ohne zu wissen, wer der Vater ist, und erzählt ihre Geschichte einem älteren Zuhörer. Während ihre Kapitel in der Vergangenheit, also im Rückblick erzählt werden, stehen die aus der Sicht Jivans im Präsens - am Ende laufen alle Fäden der Handlung zusammen - so viel sei schon verraten.

Roana wurde von ihrem Vater Joseph Debenham nach Argentinien auf einen einsamen schlafenden Vulkan geschickt wurde - alte Familientradition  - um zu sich selbst zu finden, heißt um den Weg ihres Vaters als Bauunternehmerin weiterführen zu wollen.
Am Vulkan wird ihr bewusst, wie sehr sie das In-der-Welt-Sein vermisst und sie beginnt mit Steinen zu reden - eine Gemeinsamkeit, die sie mit No verbindet.
Die intelligente, philosophisch versierte junge Frau denkt über den Sinn ihres Lebens nach und ein Satz ihrer spanischen Mutter geht nicht aus dem Kopf, "jeder Mensch muss herausfinden, wofür er brennt. Aber was hätte mich da oben zünden sollen?" (S.95)

Sie flieht aus der Einsamkeit und landet in Buenes Aires, gerät zufällig in eine Vorlesung eines Philosophieprofessors, der propagiert, man müsse die Menschen von ihren Hormonen befreien, um sie von der Sexualität zu befreien, die Lösung liege in der Kastration.

"Wir transzendieren unsere Biologie ein weiteres Mal" (S.122).

Was ihn jedoch nicht daran hindert, sie im betrunkenen Zustand zu missbrauchen.

"Inzwischen hatte ich null Kontrolle über mich. Als ich mich an ihn kuschelte, wollte Jan, dass ich mich auf den Bauch lege. Dann schob er seinen Schwanz in meine Rosette. Das tat sauweh, aber ich war so easy, so ungehemmt, keine Ahnung, warum ich so tat als ob mir das Spaß machte." (S.123)

Klare, harte Worte, um die Verlogenheit und Scheinheiligkeit solcher Weltverbesserungstheoretiker mit ihren teilweise irrwitzigen Ideen zu entlarven, denn "wenn der Anführer einer Kastrationsbewegung nicht kastriert ist, dann weiß ich auch nicht." (S.124)

Es ist nicht der letzte Weltverbesserer, an den Roana gerät, letztlich scheitern die neuen Ideen daran, dass die Ideenträger den hohen Ansprüchen daran nicht gerecht werden können. Auch genetische Experimente wie die Organisation, die den NEWMAN herstellen will, gehören dazu, als Gorilla verkleidete Idealisten oder ein Versuchslabor im alten Bunker Honekers (!), das glückliche Arbeiter generieren will.

Am Schluss laufen die unterschiedlichen Handlungsfäden in einem spannenden Finale zusammen und der Kreis schließt sich.

Bewertung 
Ich hätte noch viele weitere Textstellen zitieren können, die mich nachdenklich gemacht haben oder mich sprachlich fasziniert haben. Allein über die satirisch überspitzt dargestellten Weltverbesserungsideen und -organisationen, ihre Selbstbezogenheit und Fixierung nur auf die eigenen Ideale könnte man Seiten füllen. Letztlich scheitern alle an ihrer menschlicher Schwäche, am Egoismus, an der mangelnden Fähigkeit miteinander zu agieren. Exemplarisch dafür stehen Jivan, der alle Weltverbesserer verachtet und Jo, die sich auf jeden Zug aufspringt, aber auch No (!), der am Ausstieg aus der Welt scheitert. Nur Roana ist eine Figur, die fast bis zum Schluss eine gewissen Unschuld in sich trägt und fast als neue Heilsbringerin erscheint - aber eben auch nur fast.

Der Roman zeigt unsere Schwächen gnadenlos auf - allein der Kampf um diese neu entstandene Insel, das vermeintliche Paradies, dass von militärischen Schiffen bewacht wird, damit keine Nation sich diese einverleiben kann, zeugt davon, dass sich machtpolitisch wenig ändern wird.
Ist der Mensch doch nur ein Tier - ist das Leben daher keine Art mit einem Tier umzugehen? Bleiben wir unseren Instinkten verhaftet - wie Jivan, dessen Denken von seiner "Geilheit" bestimmt wird?
Ist unser Leben von den Hormonen determiniert? Läuft alles auf das Frau- oder Mannsein hinaus? Können wir aus dieser Welt aussteigen oder neu anfangen?
Das Pärchen No und Jule im Roman zeugen eher vom Gegenteil und Jivans Simulationsspiel, das ihn auf jene neue Insel katapultiert, erinnert erschreckenderweise an "Lord of the Flies". Das Recht dem Stärkeren und das Gegenteil eines Paradieses.
Neben den vielen Fragen über unser Menschsein, über die Suche nach dem Sinn des Lebens ist auch die Bedeutung der Geschichte ein wichtiges Thema. Das Umschreiben jener und der Versuch, die Vergangenheit zu schönen, damit wir bessere (?) Menschen werden, stellt  Jivan stellt jedoch in Frage,
"ob sich überhaupt irgendetwas wieder aus der Welt schaffen lässt." (S.267)

Die Newman-Bewegung will die Geschichte ebenfalls umschreiben, indem sie die "Basenpaare", also die Genetik umschreibt. Und doch wiederholt sich die Geschichte, selbst der Untergang der Titanic. Mehr verrate ich hier nicht.

Trotz allem ist der Roman aus meiner Sicht nicht nur pessimistisch, es gibt auch Szenen, die Grund zum Optimismus geben.
Roana, die unter der Seekrankheit leidet, wird davon geheilt, als sie selbst das Steuer des Schiffes in die Hand nimmt und sich nicht mehr von den Weltverbesserungsideen leiten lässt (?) Wird sich etwas ändern? Darauf gibt der Roman keine Antwort, aber er stellt viele kritische Fragen und das macht ihn aus meiner Sicht neben seiner Sprache, seiner Komposition und dem ironischen Blick auf alle, die im Piktogramm genannt werden, so außergewöhnlich und lesenswert!