Sonntag, 5. März 2017

Emma Braslavsky: Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen

"Er nennt´s Vernunft und braucht´s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein."
(Mephisto zum Herrn in Goethes Faust, Der Tragödie erster Teil)


gebundene Ausgabe, 462 Seiten
Suhrkamp, 16. September 2016

Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag, der mir diesen außergewöhnlichen Roman als Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Inhalt
Dem Roman vorangestellt ist ein aussagekräftiges Piktogramm sowie alle Figuren, die im Roman auftauchen, was bei der Fülle der Personen sehr hilfreich ist.


Der Roman besteht aus unterschiedlichen Teilen, die zunächst scheinbar nichts miteinander zu tun haben und spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft.

Den Anfang bilden das Ehepaar Jivan Haffner Fernándes und Jo Lewandowski Fridmann, sie eine "Besser-Welt-Aktivistin" (S.9), die von Organisation zu Organisation hüpft, er ein als Feminist getarnter Macho, der seine Frau geschickt manipuliert und letztlich von seinen Hormonen und "tierischen" Instinkten gesteuert wird.
Er ist Architekt, entwirft unterirdische Bunkeranlagen und erhofft sich einen Auftrag von der Sécurité Suisse, da er aufgrund seiner Spielsucht kurz vor der Pleite steht.

"Mit dem Erwerb der weltweiten Lizenz für die Verpachtung von unterirdischem Grund und Boden, und das war Jivans Idee, begann eine neue Erfolgsgeschichte unter der Firmierung Sécurité Suisse (SS). Überall auf der Welt pachteten reiche Menschen Raum und ließen sich abgeschirmte Safeanlagen bauen. Die verschärften Steuergesetze könnten Jivan eigentlich Aufträge auf Jahrzehnte sichern. Wenn sich die SS nur endlich zu diesem Großauftrag durchringen könnte." (S.59)

Eine Folge dieser verschärften Gesetze sind 15% Staatenlose, die sich Steuern verweigern, bei 10 Milliarden Menschen insgesamt, die immer älter werden und das ewige Leben scheint auch schon möglich - zumindest für den großen Geldbeutel.
Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten mit den zu erwartenden Folgen wie Dürren und Wirbelstürme. Auf der Welt agieren viele Organisationen, die sich einer besseren Welt verschrieben haben, u.a. BetterPlanet und Animal Rights.
Aus der personalen Perspektive erleben wir mit Jivan, der sich vorab mit einem Kebab gestärkt und seine lieb gewonnene Ledertasche in einem Gebüsch versteckt hat,  das gemeinsame Abendessen zwischen Jo und ihren neuen Arbeitgebern Achim und Kim von Animal Rights - herrlich satirisch auf die Spitze getrieben.

"Mit entspannter Zurückhaltung, tierlieb und mit proteingesättigtem Großmut, mit dem Vorsatz, sich seiner Frau zuliebe charmant und geistreich zu geben, auf keinen Fall über Geld oder Fleisch zu reden, nähert er sich der Abendgesellschaft. Er weiß, Jo will die Position als PR-Chefin bei Animal Rights unbedingt, und er will auch, dass sie sie kriegt." (S.19)

Gleich im ersten Kapitel sind mir die Sprachgewandtheit, die sich den jeweiligen Protagonisten anpasst, und die ungewöhnlichen Metaphern aufgefallen, die den Roman durchziehen.

"Jivan ist ein Mann, dessen Gehirn immer wenn jemand in seiner Nähe zu viel redet, von störenden Textketten gehackt wird, die wie Sabotageeinheiten in seine Gedanken einfallen, dann wie Schlangen quer durchs Feld ziehen und sich einen Weg zur Zunge bahnen wollen." (S.22)

Jos Einstieg bei Animal Rights hat zur Folge, dass sie - eine Tantra-Meisterin - was Jivan am meisten an ihr schätzt, auf Sex vorläufig verzichten will. Das muss er natürlich ändern und manipuliert sie so, dass sie wieder zu Tanner und BetterPlanet zurückkehrt - im Gepäck eine geniale Idee, die mit einer neu entstandenen Insel zu tun hat.

Ein wortgewaltiges Kapitel beschreibt wie sich "Schwärme von Wassermolekülen aus dem brütenden Ozean [lösen]" (S.34) und zum "Frankenstorm Tony" zusammenballen, der lebensspendende Moleküle auf ein einst unwirtliches Riff lenkt, so dass dort eben jene neue an Fauna und Flora reiche Insel entsteht, die Begehrlichkeiten weckt und großes Interesse in den N=Global - Nachrichten weckt, dessen Meldungen ebenfalls in regelmäßigen Abständen ein Bestandteil des Romans sind und satirische Bezüge zur Gegenwart haben, ebenso wie der dazugehörige Blog, in dem über die Herkunft und Zugehörigkeit der Insel spekuliert wird.

Eine weiterer Handlungsstrang erzählt von No und Jule - zwei jungen Aussteiger, die einer einsamen Bucht (auf der neuen Insel?) leben - in Form eines Notizbuches. No gibt darin seine Eindrücke des Paradieses wieder und berichtet von den Schwierigkeiten der Zivilisation zu entkommen und den Unstimmigkeiten zwischen dem Paar.
Symbolisch lässt er Steine die Dialoge zwischen ihnen beiden nachsprechen.


Auch Jivans Vater - Lautaro Álvaro - kommt zu Wort, getreu nach dem Motto des Erfinders eines neunteiligen silbrigglänzenden Zylinder, in dem man Dokumente für seine Nachfahren vom Sohn bis zum Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkelsohn hinterlässt, schreibt er die Geschichte der Familie um.

"Wenn man bedenkt, welchen Einfluss die Vergangenheit auf das Leben der Nachgeborenen hat, ist es unverantwortlich, die Wahrheit über die Geschichte unserer Vorfahren nur auf Fakten beruhen zu lassen." (S.44)

So ist Jivan selbst ein Betrogener, dessen deutsche Mutter, eine Doktorandin der Kulturwissenschaft vom Casanove Lautaro Álvaro geschwängert wurde. Um sich alle Optionen auf seinen Sohn zu erhalten, der ihn zumindest berührt hat, zahlt Lautaro Wilma Haffner bis zu ihrem Unfalltod Geld, damit sie kein schlechtes Wort über ihn oder die Familie verliert.

"Jivan wusste nichts von deren jahrhundertelanger Blutrünstigkeit und Raffgier, die erst durch die beharrliche Einwirkung von Marihuana und linken Parolen so gut wie gestoppt worden war, nicht von der darauffolgenden, nennen wir es: Orientierungslosigkeit und nichts davon , dass die Familie durch eine neu erfundene Chronik und eine dementsprechend neue Selbstdarstellung vor dem vollständigen Untergang bewahrt werden soll." (S.47)

Fehlt noch die zweite Protagonistin des Romans, die 19jährige Roana. Sie hat offensichtlich gerade eine Katastrophe überlebt, sitzt an einem Strand, ist schwanger, ohne zu wissen, wer der Vater ist, und erzählt ihre Geschichte einem älteren Zuhörer. Während ihre Kapitel in der Vergangenheit, also im Rückblick erzählt werden, stehen die aus der Sicht Jivans im Präsens - am Ende laufen alle Fäden der Handlung zusammen - so viel sei schon verraten.

Roana wurde von ihrem Vater Joseph Debenham nach Argentinien auf einen einsamen schlafenden Vulkan geschickt wurde - alte Familientradition  - um zu sich selbst zu finden, heißt um den Weg ihres Vaters als Bauunternehmerin weiterführen zu wollen.
Am Vulkan wird ihr bewusst, wie sehr sie das In-der-Welt-Sein vermisst und sie beginnt mit Steinen zu reden - eine Gemeinsamkeit, die sie mit No verbindet.
Die intelligente, philosophisch versierte junge Frau denkt über den Sinn ihres Lebens nach und ein Satz ihrer spanischen Mutter geht nicht aus dem Kopf, "jeder Mensch muss herausfinden, wofür er brennt. Aber was hätte mich da oben zünden sollen?" (S.95)

Sie flieht aus der Einsamkeit und landet in Buenes Aires, gerät zufällig in eine Vorlesung eines Philosophieprofessors, der propagiert, man müsse die Menschen von ihren Hormonen befreien, um sie von der Sexualität zu befreien, die Lösung liege in der Kastration.

"Wir transzendieren unsere Biologie ein weiteres Mal" (S.122).

Was ihn jedoch nicht daran hindert, sie im betrunkenen Zustand zu missbrauchen.

"Inzwischen hatte ich null Kontrolle über mich. Als ich mich an ihn kuschelte, wollte Jan, dass ich mich auf den Bauch lege. Dann schob er seinen Schwanz in meine Rosette. Das tat sauweh, aber ich war so easy, so ungehemmt, keine Ahnung, warum ich so tat als ob mir das Spaß machte." (S.123)

Klare, harte Worte, um die Verlogenheit und Scheinheiligkeit solcher Weltverbesserungstheoretiker mit ihren teilweise irrwitzigen Ideen zu entlarven, denn "wenn der Anführer einer Kastrationsbewegung nicht kastriert ist, dann weiß ich auch nicht." (S.124)

Es ist nicht der letzte Weltverbesserer, an den Roana gerät, letztlich scheitern die neuen Ideen daran, dass die Ideenträger den hohen Ansprüchen daran nicht gerecht werden können. Auch genetische Experimente wie die Organisation, die den NEWMAN herstellen will, gehören dazu, als Gorilla verkleidete Idealisten oder ein Versuchslabor im alten Bunker Honekers (!), das glückliche Arbeiter generieren will.

Am Schluss laufen die unterschiedlichen Handlungsfäden in einem spannenden Finale zusammen und der Kreis schließt sich.

Bewertung 
Ich hätte noch viele weitere Textstellen zitieren können, die mich nachdenklich gemacht haben oder mich sprachlich fasziniert haben. Allein über die satirisch überspitzt dargestellten Weltverbesserungsideen und -organisationen, ihre Selbstbezogenheit und Fixierung nur auf die eigenen Ideale könnte man Seiten füllen. Letztlich scheitern alle an ihrer menschlicher Schwäche, am Egoismus, an der mangelnden Fähigkeit miteinander zu agieren. Exemplarisch dafür stehen Jivan, der alle Weltverbesserer verachtet und Jo, die sich auf jeden Zug aufspringt, aber auch No (!), der am Ausstieg aus der Welt scheitert. Nur Roana ist eine Figur, die fast bis zum Schluss eine gewissen Unschuld in sich trägt und fast als neue Heilsbringerin erscheint - aber eben auch nur fast.

Der Roman zeigt unsere Schwächen gnadenlos auf - allein der Kampf um diese neu entstandene Insel, das vermeintliche Paradies, dass von militärischen Schiffen bewacht wird, damit keine Nation sich diese einverleiben kann, zeugt davon, dass sich machtpolitisch wenig ändern wird.
Ist der Mensch doch nur ein Tier - ist das Leben daher keine Art mit einem Tier umzugehen? Bleiben wir unseren Instinkten verhaftet - wie Jivan, dessen Denken von seiner "Geilheit" bestimmt wird?
Ist unser Leben von den Hormonen determiniert? Läuft alles auf das Frau- oder Mannsein hinaus? Können wir aus dieser Welt aussteigen oder neu anfangen?
Das Pärchen No und Jule im Roman zeugen eher vom Gegenteil und Jivans Simulationsspiel, das ihn auf jene neue Insel katapultiert, erinnert erschreckenderweise an "Lord of the Flies". Das Recht dem Stärkeren und das Gegenteil eines Paradieses.
Neben den vielen Fragen über unser Menschsein, über die Suche nach dem Sinn des Lebens ist auch die Bedeutung der Geschichte ein wichtiges Thema. Das Umschreiben jener und der Versuch, die Vergangenheit zu schönen, damit wir bessere (?) Menschen werden, stellt  Jivan stellt jedoch in Frage,
"ob sich überhaupt irgendetwas wieder aus der Welt schaffen lässt." (S.267)

Die Newman-Bewegung will die Geschichte ebenfalls umschreiben, indem sie die "Basenpaare", also die Genetik umschreibt. Und doch wiederholt sich die Geschichte, selbst der Untergang der Titanic. Mehr verrate ich hier nicht.

Trotz allem ist der Roman aus meiner Sicht nicht nur pessimistisch, es gibt auch Szenen, die Grund zum Optimismus geben.
Roana, die unter der Seekrankheit leidet, wird davon geheilt, als sie selbst das Steuer des Schiffes in die Hand nimmt und sich nicht mehr von den Weltverbesserungsideen leiten lässt (?) Wird sich etwas ändern? Darauf gibt der Roman keine Antwort, aber er stellt viele kritische Fragen und das macht ihn aus meiner Sicht neben seiner Sprache, seiner Komposition und dem ironischen Blick auf alle, die im Piktogramm genannt werden, so außergewöhnlich und lesenswert!