Donnerstag, 4. Mai 2017

Nathan Hill: Geister

der Vergangenheit, die in die Gegenwart spuken.

Hörbuch von audible
gelesen von Uve Teschner
23 Stunden 49 Minuten

Inhalt
Prolog
Ganz leise schleicht sich Faye Anderson aus dem Leben ihres Sohnes Samuel Anderson und ihres Mannes Henry. Der Weggang seiner Mutter ist ein Ereignis, das das Leben des Jungen entscheidend prägen wird.

Jene Faye Anderson verübt im Sommer 2011 einen Anschlag auf Gouverneur Packer, der erstaunliche Ähnlichkeiten mit Donald Trump aufweist - was sein Auftreten und seine politische Meinung betreffen. Sie bewirft ihn in einem Park mit Kieselsteinen, wobei sie unglücklicherweise sein Auge verletzt. Die Tat wird von den Medien als terroristischer Angriff einer Linksradikalen aufgebauscht. Es wird bekannt, dass Faye an den Chicagoer Aufstände 1968 beteiligt gewesen ist, wie ein Foto eindeutig beweist, und sie als Prostituierte verhaftet wurde.
Um sie zu entlasten, kontaktiert die Anwaltskanzlei Rogers&Rogers den Literaturprofessor Samuel Anderson, damit er dem Richter einen Brief schreibt, indem er seine Muttter mit liebevollen Tönen schildert. Dabei hat Samuel seine Mutter seit Sommer 1988 nicht mehr gesehen und keinen Kontakt mehr zu ihr, er wusste nicht einmal, dass sie in Chicago studiert hat und dort verhaftet wurde.

Samuel Leben hat sich nicht zum Positiven entwickelt: Er ist geschieden, hat Schulden, verbringt sehr viel Zeit in der virtuellen Welt von "Elfscape", einem Internet-Computerspiel. Zudem hat er Ärger mit einer Studentin, die er durchfallen lässt, weil ihre Hausarbeit nicht von ihr selbst verfasst worden ist.
Zu Beginn seiner Collegezeit hat er eine Kurzgeschichte verfasst, die als vielversprechend galt. Daraufhin hat ihn der Verleger Periwinkle kontaktiert, um ihm einen Buchvertrag anzubieten. Das Geld hat Samuel längst ausgegeben, 10 Jahre danach existiert aber immer noch kein Buch, jetzt soll er liefern oder er wird verklagt, das Geld zurückzuzahlen. Samuel ist so verzweifelt, dass er seinem Verleger anbietet, die Geschichte seiner Mutter, der Packer-Attacker, zu schreiben. Dieser ist begeistert, der Verriss einer Frau, die einen Gouverneur angreift und ihren Sohn verlassen hat - das wird die Leser/innen begeistern.

In dieser Lebenssituation erreicht ihn nun der Anruf und wirft ihn völlig aus der Bahn. Ausgerechnet er soll einen Brief für die Mutter schreiben, die sein Leben seiner Meinung nach in die falsche Richtung gelenkt hat.

Der Roman besteht aus10 Teilen, die in verschiedenen Zeiten spielen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, und in denen sich Schritt für Schritt die Geschichte Fayes zusammensetzt. Die Gründe, warum sie Samuel und ihren Mann verlassen hat, werden aufgedeckt und die Rolle der  "Geister" wird offenbar.

Im 2.Teil lernen wir den 11-jährigen Samuel kennen, dessen Weinerlichkeit seine Mutter kaum ertragen kann. Ein tristes Familienbild. Faye erzählt ihrem Sohn Geschichten von norwegischen Geistern, die ihr Vater, der aus Hammerfest stammt, ihr schon als Kind erzählt hat. Düstere, böse Geister bevölkern die Träume des sensiblen Samuels, der keine echten Freunde hat und spürt, dass er seiner Mutter nicht genügt.

Er lernt die Zwillinge Bishop und Bethany kennen. Während ersterer ein Enfant terrible zu sein scheint, ist seine Schwester ein musikalisches Wunderkind, eine Virtuosin an der Geige. Samuel verliebt sich in sie und freundet sich mit beiden an, wobei Bishop einen für Samuel unbegreiflichen Zorn in sich trägt und ständig Ärger verursacht. Besonders hat er es auf den Rektor seiner ehemaligen Schule abgesehen, aus der er rausgeworfen wurde.
Die Zwillinge verlassen die Stadt, fast zur gleichen Zeit, an dem auch Samuels Mutter ihn verlässt - ein traumatischer Verlust.
Er solle keine Angst haben, sagt Faye ihm zum Abschied, und fragt ihn, was er werden wolle. Schriftsteller - eine Antwort, die den Werdegang seines Lebens bestimmt, da sie ihm verspricht, alles von ihm zu lesen.

Zurück im Jahr 2011 schweigt sich seine Mutter allerdings über die Gründe ihrer Flucht aus, während die Studentin Laura einen betrügerischen Weg sucht, Samuel von der Universität zu entfernen.
Dieser beschließt sich nach dem wenig erfolgreichen Besuch bei seiner Mutter auf Spurensuche zu machen. Er besucht seinen dementen Großvater in Iowa, dort, wo seine Mutter aufgewachsen ist und erhält erste Hinweise auf ihre Studienzeit in Chicago.

Im vierten Teil, der im Jahre 1968, wird die Schlüsselszene des Romans erzählt. Fayes "Bekanntschaft" mit dem Nisse, einem norwegischen Hausgeist, den sie laut Aussage ihres Vaters verärgert hat, was ihre erste von vielen weiteren Panikattacken auslöst. Faye will fortan keine Fehler mehr machen, wird zur Musterschülerin und Perfektionistin, geht aber auch kein Risiko mehr ein. Sie erhält ein Stipendium für die Universität in Chicago. Sowohl ihre Eltern als auch ihr Freund Henry sind dagegen. Der Betrug einer Freundin führt dazu, dass sie aus der Kleinstadt flüchten muss - es wird nicht ihre letzte Flucht sein.

Der 5.Teil ist besonders gut komponiert. Samuel erzählt eine "Erfinde dein eigenes Abenteuer-Geschichte" und blickt zurück auf seine Entscheidungen. Schriftsteller ist er geworden, um seine Mutter, aber auch Bethany zu beeindrucken. In der Kurzgeschichte, die ihn "berühmt" gemacht hat, erzählt er die Geschichte Bishops, da Samuel inzwischen begriffen hat, woher dessen Zorn kommt. Ein Verrat an ihrer Freundschaft.
Eine Entscheidung muss er auch in Bezug auf Bethany treffen. In New York begegnen sie sich 2002 anlässlich einer Protestaktion gegen den Irak-Krieg.
Ein Brief von Bishop, geschrieben aus dem Krieg, beeinflusst diese Entscheidung. Erzählt wird in diesem Teil auch, unter welchen Umständen dieser Brief entstanden ist. Der Roman schlägt damit einen Bogen von den Chicagoer Aufständen (Fayes Geschichte) über Occupy Wall Street, da jedes Telefonat mit seinem Verleger vom Trommeln der Demonstranten begleitet ist, bis hin zum 11.September und dem darauffolgenden Irak-Krieg.

Im 6.Teil (2011) erscheint eine weitere Figur - ein neuer Handlungsstrang, der die Geschichte vorantreibt. Samuel macht mithilfe eines Elfscape-Kumpels die Freundin seiner Mutter ausfindig - Alice, die Frau, die auf dem Foto hinter seiner Mutter gesessen hat. Sie erzählt ihm, warum der Richter, der den Fall seiner Mutter verhandelt - Charles Brown - für Faye so gefährlich ist.

Teil 7 beleuchtet die Ereignisse 1968 in Chicago aus der Sicht Fayes, wie sie den attraktiven Sebastian kennen lernt, in welcher Beziehung Alice zu Charles Brown, damals Polizist, gestanden hat und unter welchen Umständen Faye der Prostitution bezichtigt wurde.
Gleichzeitig entsteht ein ungeschminktes Bild der 68er Bewegung in Chicago, ihres Idealismus und der Brutalität der Chicagoer Polizei.

Im Sommer 2011 (Teil 8) kommt auch der Richter Charles Brown, der inzwischen im Rollstuhl sitzt, zu Wort, bevor der nächste Teil die Ereignisse um Faye, Alice, Sebastian und Charles beleuchtet, an dem Tag der Studentenunruhen anlässlich des demokratischen Parteitages in Chicago (1968).

Viele Fäden entwirren sich in diesem vorletzten Teil, doch erst der letzte lässt alle Ereignisse und einige Figuren in neuem Licht erscheinen und hält überraschende Wendungen bereit.

Bewertung
Ein großartiger Roman, der die Geschichte einer Familie und der sie beherrschenden Geister erzählt. Von einer Frau, die Zeit ihres Lebens auf der Flucht vor dem Hausgeist ihres Vaters ist, der selbst ein Geheimnis birgt, auf der Suche nach ihrem wahren Ich und der eigenen Identität. Führt Fayes Verhalten zu Beginn des Romans dazu, dass man ihr Unverständnis entgegenbringt, wie kann ich mein Kind verlassen, wird diese Handlung im Verlauf des Romans plausibel und nachvollziehbar.
Am Beispiel Samuels zeigt er, dass man im Kreisen um die Frage, ob man die falschen Entscheidungen getroffen hat, in der Gegenwart nicht leben kann.

Ein Roman über Verlust, Verrat, aber auch über das Verzeihen können - sich und anderen.
Gleichzeitig ein großartiges Gesellschaftsbild. Da werden Computerspiele und ihre langfristigen Wirkungen auf die Spieler genauso unter die Lupe genommen, wie die Hohlheit von Apps wie "I feel...", die eine Empfindung wie Zweifel nicht gespeichert hat.
Die Glaubwürdigkeit politischer Vertreter und deren Wahlkampfmanager wird beleuchtet und in Frage gestellt. Der Verleger Periwinkle ist ein besonders gutes Beispiel für einen skrupellosen Opportunisten, der die Medien jederzeit für seine Interessen instrumentalisiert.
Und nebenbei bietet der Roman Einblicke in die studentischen Aufstände in Chicago 1968 und schlägt einen Bogen zur Occupy Wall Street Bewegung.

Zeit- und Entwicklungsroman, Familien- und Liebesgeschichte - wunderbar gelesen von Uve Teschner, der jeder Figur mit eigener Intonation und Akzent Leben schenkt.

Klare Leseempfehlung!