Donnerstag, 20. Juli 2017

Susann Pásztor: Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster

- ein einfühlsame Geschichte über eine Sterbende und ihren Begleiter.

Gebundene Ausgabe, 288 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 16.Februar 2017

Inhalt

Im Zentrum der Geschichte stehen drei Personen, aus deren Perspektive in der Er/Sie-Form die Handlung abwechselnd erzählt wird.

Karla Jenner-García ist eine Frau über 60 Jahre und unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Die Chemotherapie hat sie abgebrochen, ihr bleiben noch etwa 5-6 Monate zu leben. Sie ist schmal, blass und geht immer barfuß.

Jahrelang hat sie in Ibizia und Formentera gelebt, zuletzt Immobilien mit ihrem spanischen Mann verkauft, so dass sie keine finanziellen Nöte hat.
Da sie keine Familie und den Kontakt mit ihrer Schwester vor 40 (!) Jahren abgebrochen hat und nicht in ein Hopiz will, hat sie sich für eine Sterbebegleitung zuhause entschieden.

Fred Wiener übernimmt diese Aufgabe, ein ca. 40 Jahre alter Mann, geschieden, übergewichtig und überpünktlich. Es ist seine erste Sterbebegleitung - sein Versuch einen Sinn im Leben zu finden?

"Es gehörte zu seinen Gewohnheiten, Anfahrtszeiten so großzügig zu kalkulieren, dass ihm bei der Ankunft noch genügend Zeit zur Orientierung bleib. Das gab ihm Sicherheit." (S.7)

Ihr erstes Zusammentreffen, in dem Fred sich angestrengt bemüht, eine Unterhaltung zu bestreiten, verläuft schwierig.

"Tun sie mir den Gefallen und hören Sie bitte mit dieser Scheißkonversation auf." Sie sagte es nicht unfreundlich, aber bestimmt." (S.14)

Karla bleibt unzugänglich, lässt sich aber zunächst auf die Begleitung ein.

Phil Wiener ist Freds Sohn und ein Einzelgänger, ein 13-jähriger, der Gedichte liest und verfasst.
Er hat sich bereits als Achtjähriger ein ein "Wörterkrankenhaus" ausgedacht, es

"bestand aus einer dreibändigen handschriftlichen Sammlung von Wörtern, die Phils Meinung nach vorübergehend längerfristig oder, wenn sie unheilbar erkrankt waren, auch endgültig aus dem Verkehr gezogen werden mussten." (S.26)

Er lebt nach der Scheidung seiner Eltern bei seinem Vater, seine esoterisch veranlagte Mutter schickt ihm Wachstumselixier und versucht, ihn mit positiver Energie per Telefon zu versorgen. Phil hasst es und bringt in seinen Gedichten seine Gefühle deutlich zum Ausdruck.

Karla war in den 80/90er Jahren ein Groupie der Band "The Grateful Dead" und hat unzählige hochwertige Fotographien aus dieser Zeit, die Phil digitalisieren soll. So lernen sich beide kennen und behutsam baut sich eine Freundschaft zwischen den beiden auf, da Karla Phil so sieht, wie er wahrgenommen werden möchte und er ihren Wunsch nach Ruhe akzeptiert.
Gleichzeitig verändert sich auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn.

Auch Karla schreibt Gedichte, Wortlisten, die mehr über sie verraten, als die Gespräche, die sie führt.

"otto verschont

gudrun vertraut

meiner kunst nicht vertraut

zweimal abgetrieben

mit dem fotografieren aufgehört

joaquín verlassen

chemo besseres wissen

weitere idiotische fehlentscheidungen
vielleicht sterbebegleiter engagiert

kinderarbeitgeberin geworden" (S.79)


Zwei Kapitel sind aus der Perspektive von Karlas Schwester Gudrun verfasst, die Leser*innen ahnen, welche Familientragödie sich abgespielt hat - Mutter weggelaufen, Vater Alkoholiker, Schwester frisst sich einen Schutzwall an, Karla muss für den Vater tanzen...der Rest bleibt offen und der Fantasie der Lese*innen überlassen.

Im Haus, in dem sich Karlas Wohnung befindet, wohnt auch Leo Klaffki, allein stehender, älterer Herr und bekennender Werder-Fan und Hundebesitzer, der sich ebenso um sie sorgt und an Freds Seite steht. Genauso wie die junge Reno, in die sich Phil verliebt. Sie lassen sich nicht von Karlas spröder und zugänglicher Art abschrecken.
Fred startet einen Versuch, die Schwestern an Weihnachten zu versöhnen. Ob das gelingen kann? Ob Karla diesen Übergriff verzeiht?

Bewertung
Susann Pásztor hat selbst eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist ehrenamtlich tätig (Quelle: Klappentext). Diese Erfahrung wird im Roman erlebbar.
Das Ende Karlas ist absehbar und der Sterbeprozess wird sensibel und sehr berührend geschildert, Szenen, die wirklich ans Herz gehen, ohne kitschig zu sein.
Ein trauriger, aber auch sehr schöner Roman, der ohne erhobenen Zeigefinger deutlich macht, dass das Sterben zum Leben gehört und jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, selbst zu entscheiden, wann und wie er gehen möchte.
"Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster", damit die Seele den Körper verlassen kann.

Neben der Thematik Sterben (begleiten) steht die Beziehung zwischen Phil und seinem Vater im Fokus. Die Arbeit für Karla eröffnet dem Jungen die Möglichkeit, seinen eigenen Weg zu finden, festigt sein Selbstvertrauen und der Vater erkennt das Potential seines Sohnes. Doch auch Fred geht nicht unverändert aus dieser Begleitung hervor, die Erfahrungen erweitern auch seinen Horizont.

Ein lesenswerter Roman, der lange nachhallt.