Dienstag, 25. Juli 2017

T.C. Boyle: Wassermusik

- Abenteuerreisen zum Niger.

Taschenbuchausgabe, 575 Seiten
dtv Verlagsgesellschaft, 1. Juni 2015
Neuübersetzung

"Wassermusik" ist Boyles Debüt aus dem Jahr 1981 und hat ihn als amerikanischen Kultautor etabliert (Quelle: Klappentext).
Im Rahmen einer Leserunde auf whatchareadin haben wir uns gemeinsam diesem Erstlingswerk gewidmet und darüber diskutiert.

Inhalt
Im Mittelpunkt des Abenteuerromans stehen die Reisen des schottischen Entdeckers Mungo Park, dessen erklärtes Ziel es war, den Verlauf des Niger zu erkunden. Boyle hält sich weitestgehend an die historischen Daten der Reisen.

Der Roman beginnt während der ersten Reise (1795-1797), als Mungo in die Gefangenschaft der Mauren gerät.

"Während die meisten jungen Schotten seines Alters Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat ausbrachten, stellte Mungo Park seinen nackten Hintern vor al-Hadsch Ali ibn Fatoudi, dem Emir von Ludamar, zur Schau." (S.13)

Gequält wird er von Alis Scherge und menschlichem Schakal Dassoud, der ihn bis an sein Lebensende immer wieder verfolgen wird. Begleitet wird Mungo von einem Schwarzen - Johnson, der zunächst als Sklave in den USA Baumwolle gepflückt hat, unter glücklichen Umständen nach London gelangte und dort als Kammerdiener Sir Reginald Durfeys arbeitet. Er bringt sich selbst Griechisch und Latein bei, liest die Klassiker und erzählt seinem Herren vom schwarzen Kontinent.
Nachdem ihn ein britischer Gentleman beleidigt, tötet er diesen im Duell und wird nach Gorée deportiert. Er kann fliehen und kehrt in sein Heimatdorf Dindiku nach Westafrika zurück, wo Mungo ihn auf Vermittlung von Sir Durfeys für seine Reise als Dolmetscher mitnimmt.

Als Sekundant des Mannes, den er erschossen hat, dient Ned Rise. Ein Überlebenskünstler, Sohn einer Alkoholikeren, als Kind misshandelt und gedemütigt. Er lebt auf der Straße, als sich der Musiker Prentiss Barrenboyne seiner annimmt, ihm das Klarinette spielen beibringt und sieben gute Jahre beschert. Bis zu jenem Duell, in dem sein Gönner von Johnson getötet wird.

Abwechselnd erzählt Boyle vom abenteuerlichen Verlauf der Afrikareise und von Ned Rise schauerlichem und nicht weniger abenteuerlustigen Leben in London im Jahre 1795. Man fragt sich, wie die beiden Handlungsstränge zusammenlaufen werden.

Während Mungo der Gefangenschaft der Mauren entkommen kann, wartet seine Verlobte Ailie in Schottland sehnsüchtig auf ihn. Der Gehilfe ihres Vaters, der als Arzt tätig ist, Georgie Gleg umwirbt sie mit Gedichten, Liedern und Geschenken, ein linkischer Junge, mit Segelohren und Pferdegebiss. Wird sie auf Mungo warten?

Mungos und Johnsons Weg führt auf verwunschenen Pfaden bis nach Segu, wo der Entdecker voll Enthusiasmus zum ersten Mal in den Niger springt. Eigentlich ein erhebender Moment:

"Die Stimme des Entdeckers bebt und stockt, ein Schauer überläuft ihn. Die blaue Samtjacke hängt formlos und schwarz vor Nässe an ihm herab, sein Hemd ist mit Entengrütze gesprenkelt, seine Stiefel sind Fischteiche. Ein riesiger Wasserläufer hat sich im Bart verfangen und rudert mit seinen hässlichen Beinen." (S.144)

Boyle vermag erhebende Momente, derart komisch darzustellen, dass ich beim Lesen oft laut lachen musste. Bildlich lassen die Helden Zelte einstürzen, werden tiefgefroren in der Themse gefunden und flüchten auf abenteuerliche Art und Weise aus den Gefahrenzonen.

Am Ende des ersten Teils ist Johnson von einem Krokodil in die Tiefe gezogen worden.
Mungo musste aufgrund der einbrechenden Regenzeit umkehren und ihm gelingt im Dezember 1797 die Rückkehr nach England, wo er als Held gefeiert wird, während seine Verlobte Georgie Gleg versprochen hat, ihn an Weihnachten 1797 zu heiraten.
Ned Rise hingegen ist am Strang gestorben, zu oft hat er betrogen und mit dem Feuer gespielt.

Wie soll es weitergehen? Im 2.Teil, der in England und Schottland spielt, wird die zweite Afrikareise (1805-1806) Mungos vorbereitet, von der 3.Teil des Romans erzählt. Dabei warten einige Überraschungen und zahlreiche skurrile Szenen auf die Leser*innen.

Bewertung
Auf der Buchrückseite ist zu lesen, dass "Wassermusik" ein Meisterwerk sei, "in dem zwischen Absurdem und Komischem, bitterer Ernst lauert."

Treffender kann man es nicht ausdrücken. Die witzigen Szenen im Roman sind zahlreich, sie unterhalten, verführen beständig zum Weiterlesen, ebenso wie die verschiedenen Erzählstränge, die geschickt verflochten werden.
Unzählige kleine Geschichten entfaltet Boyle und gleichzeitig entsteht ein Bild Londons Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vor dem inneren Auge - man kann den Dreck auf den Straßen sehen, den bestialischen Gestank riechen und den Lärm der Kutschen und Menschen hören.
Genauso gut gelingt es Boyle die afrikanische Landschaft, die Hitze, die Feuchtigkeit erlebbar zu machen. Aber auch die vielfältigen Krankheiten, die sehr detailliert in ihren Auswirkungen beschrieben werden.
Die kulturellen Unterschiede werden thematisiert, genauso wie die Diskrepanz zwischen Erlebtem und dem Reisebericht, in dem vieles geschönt wird. Das Opfer an Menschen, die für die Expedition ihr Leben lassen oder zuhause leiden, wird ebenso wenig verschwiegen, wie Mungos Fehlentscheidungen auf der 2.Reise, sein Größenwahn und seine mangelnde Menschenkenntnis. Er ist kein strahlender Held, eher ein Mensch, der für sein Vorhaben über Leichen geht.

Aber auch gesellschaftliche Verhältnisse werden unter die Lupe genommen. So wie Ailie aus Langeweile mikroskopiert, so stellt Boyle die Situation in den Gefängnissen Londons detailliert dar, die Farce des Gerichtsprozesses von Ned Rise und die Perversionen der Oberschicht. Unter welch unwürdigen Umständen die Menschen teilweise gelebt haben - man mag es nicht glauben, Boyle kann es erzählen.

Diese Fülle an Geschichten, der Einfallsreichtum und die skurrilen Situationen, die Fähigkeit Situationen so zu beschreiben, dass die Leser*innen sie sehen, hören und riechen, sind der Grund, warum ich den Roman weiter gelesen habe. Interessant fand ich auch die historisch eingebetteten Informationen, die Beschreibung, wie eine Forschungsreise vor 200 Jahren ausgesehen hat - ohne die Möglichkeiten, wie wir sie heute kennen. Der schonungslose Blick auf die Gesellschaft auf beiden Kontinenten ist ebenfalls faszinierend und im Fall des Verhaltens der Weißen gegenüber den Schwarzen schockierend, aber wirklich berührt hat mich der Roman nicht.

Für mich ist es ein ideenreicher, detaillierter Abenteuerroman, der längst vergangene Zeiten wieder auferstehen lässt.