Freitag, 25. August 2017

Anna Kim: Fingerpflanzen

Erzählungen mit und nach Bildern von Kristian Evju

Paperback, 128 Seiten
Topalian & Milani Verlag, 2017

Im vorliegenden Erzählband treten die Schriftstellerin Anna Kim und der Künstler Kristian Evju in einen Dialog.
Kim ließ sich von Bildern zu Geschichten inspirieren, adaptierte Ideen auf die Bilder hin und umgekehrt schuf Evju Bilder für die Erzählungen. So finden sich neben den 6 Erzählungen auch zahlreiche Schwarz-Weiß-Bilder in der bibliophilen Ausgabe.

Die Erzählungen
Einige der Erzählungen erinnern mich an die Franz Kafkas. Wie es im Nachwort heißt, hat die Autorin "Freude an surrealer Wirklichkeitsausdehnung" (S.123). Dadurch erschließen sich die Geschichten nicht sofort, fordern zu intensiver Auseinandersetzung heraus.

In "Nasenhörner" erhält Herr Schmidt einen Brief von seiner Ehefrau, mit der er seit 3 Jahren verheiratet ist. Die Ehe wird aber nicht gelebt - trotz einer standesamtlichen Trauung.
Erst nach einem Jahr fällt Irina Kranz, der Ehefrau auf, dass ihr Mann abwesend ist, da sie alleine den Kühlschrank füllt. Aufgrund eines Geruchs geht sie von der Annahme aus, dass ihr Mann, der offenkundig nichts von der Ehe weiß, sie betrogen hat und sie nimmt sich das Recht heraus sich scheiden zu lassen. Eine überaus skurrile Situation.
Eine Allegorie auf das Leben nebeneinander ohne Liebe und Zuneigung? Ein Bild für die Kälte zwischen einem Paar? Darauf, was ein unbedachtes Wort auslösen kann? Viele Fragen, als Leser*innen dürfen wir uns die Antworten geben. Das Titelbild gehört zu der Geschichte und zeigt eine selbstbewusste Frau vor einer Schreibmaschine...

In der zweiten Erzählung "Die unerwünschte Liebe in der Montrose Street" scheint die Handlung realitätsnaher zu sein. Ein Lyriker trifft seinen immer schlecht gelaunten Lektor, der endlich auch von der Liebe befallen wird und darüber seine Arbeit vernachlässigt. Wer die junge Dame ist, bleibt vorläufig im Dunkeln. Doch die Handlung nimmt eine unerwartete Wendung und führt dem Lyriker vor Augen, dass man das Offensichtliche nicht sehen will und dass eine Liebe, für die man nicht bereit ist, Veränderungen einzugehen, verloren geht.

Meine Lieblingsgeschichten sind der "Ball der Gewichtheber" und "Die Zeitbraut", die beide mit einer überraschenden Wende aufwarten.

Im "Ball der Gewichtheber" wird ein Mann von seiner Freundin verlassen und zieht sich völlig seine neue Wohnung zurück. Wie ein Einsiedler verkriecht er sich und lauscht den Schritten vor seiner Tür, wandert nachts durch die leeren Straßen.

"Diese Leere erfreute mich, sie spiegelte die Leere wider, die ich schon seit Jahren fühlte; endlich hatte ich die Landschaft gefunden, die meiner Seele entsprach." (S.45f.)

Die überraschende Einladung zu dem "Ball der Gewichtheber" reißt ihn aus der Lethargie und Fokussierung auf die Schritte, die er vor seiner Wohnung hört.

"Die Zeitbraut" ist auf einem Bild in einem Fotoladen zu sehen. Der Inhaber erzählt, sie habe Männer vorm Altar stehen lassen, was zuvor verabredet wurde, damit andere Frauen diese Männer aus Mitleid heiraten. Eine interessante Geschäftsidee - sie selbst sei verlassen worden, am Tag ihrer Hochzeit, an dem das Foto entstanden ist. Eine traurige Geschichte, die am Ende eine unerwartete Wendung erfährt.

Die letzten beiden Erzählungen "Die Zähne" und "Fingerpflanzen" sind wieder sehr skurril. In "Die Zähne" verwandelt sich ein Mann in ein Nagetier und zieht sich aus der Gesellschaft zurück...ehrlich gesagt habe ich dazu keinen Zugang gefunden.

Anders bei den "Fingerpflanzen", in der ein Mann auf andere Lebewesen, wenn er sie mit dem Finger berührt, Arme pflanzen kann, die gleichsam mit ihm verbunden bleiben. Überall finden sich seine Spione, er selbst hat acht Arme. Eine Allegorie auf einen totalen Überwachungsstaat? Auf ein übersteigertes Kontrollbedürfnis? Auf übergriffiges Verhalten? Deutungsmöglichkeiten, die den Leser*innen Raum für Spekulationen lassen.

Anna Kim bietet keine leicht verdauliche Unterhaltung. Ihre Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, ihre Sprache fantasievoll, klar und ansprechend.

Eine Herausforderung, zu der mich die Autorin eingeladen hat.
Vielen Dank an den Topalian & Milani Verlag für dieses Leseexemplar.