Montag, 26. Februar 2018

Thomas Elbel: Der Todesmeister

- nichts für schwache Nerven.

Leserunde auf whatchareadin mit Autorenbegleitung

Als ich den Klappentext zum Thriller "der todesmeister" gelesen habe, war ich unsicher, ob ich an der Leserunde teilnehmen sollte. Die Leiche eines jungen Mädchens, gefoltert und vergewaltigt, wird in der Nähe der Oberbaumbrücke in Berlin gefunden.

Gewalt und Missbrauch bei Kindern ist ein Thema, das ich als Mutter zweier Mädchen lieber meide. Doch die erste Leseprobe und die Aussicht, dass der Autor selbst für Fragen zur Verfügung steht, haben mich überzeugt. Gott sei Dank, denn der Thriller hat sich zwar als grausam herausgestellt, aber auch als extrem spannend und humorvoll. Eine gelungene Mischung mit einem interessanten Ermittlungsteam. Aber erst mal der Reihe nach...


Worum geht es?
Im Prolog flüchtet ein Mädchen, dass ungefähr drei Wochen gefangen gehalten, gefoltert und offenkundig missbraucht wurde, vor seinem Peiniger, wird jedoch wieder aufgegriffen.

"Willkommen im Grand Guignol", sagte er. "Das Kabarett des Schreckens." (S.17)

Am 5. Januar 2017, einem Donnerstag, wird ihre Leiche an der Oberbaumbrücke gefunden. Der Obdachlose Gerd hat zuvor die "Entsorgung" des Mädchens beobachtet und gestört, dabei gerät er gemeinsam mit ihr in die Fluten, kann sich aber retten. Wird er als Zeuge aussagen können?

Am gleichen Tag tritt Viktor von Puppe seinen Dienst am LKA an, bisher hat er für das Innenministerium gearbeitet. Die wahren Motive für seine Versetzung will er dem Chef der Behörde, Erich Richter, unter keinen Umständen mitteilen.

"Die Wahrheit war tabu, oder seine "Polizeikarriere", würde enden, bevor sie überhaupt begonnen hatte." (S.23)

"Aber er musste unbedingt zur Poilzei. Es war der einzige Weg, endlich die Wahrheit..." (S.25)

Welches Geheimnis birgt der neue Ermittler und welche Motive haben ihn veranlasst seinen Arbeitsplatz mit dem rauen Polizeialltag zu vertauschen?

Seine neuen Kollegen sind

  • Kenji Tokugawa, japanischer Abstammung, der nach außen hin eine große Berliner Schnauze zelebriert, dessen Vergangenheit aber ein ebenso dunkles Geheimnis birgt, wie die Viktor von Puppes.

"Das Gesicht des Mannes hatte etwas Aristokratisches, wie aus einem alten Samurai-Schinken, mit einem feinen goldfarbenen Tein und einem dünnen Bart. Sein Oberkörper steckte in einem verwaschenen Longsleeve, auf dem ein "Dead Kennedys"-Logo prangte. Dazu trug er Cargopants mit Camouflage-Musterung und gammelige Kampfstiefel." (S.38)

  • Begüm Duran, allein erziehende Mutter einer vierjährigen Tochter und türkischer Herkunft, die sich Viktor gegenüber abweisend und schroff verhält.

Ken beschließt kurzerhand ihn "Püppi" zu nennen und es sieht aus, als müsse sich Viktor erst deren Respekt verdienen. Die Dialoge zwischen dem ungleichen Ermittlertrio sorgen für den entsprechenden Humor und für viele skurrile Szenen - zusammen mit der sehr attraktiven Rechtsmedizinerin Stella, die ihr sexuelles Interesse an Viktor recht offen bekundet, bilden sie einen wohltuenden Kontrast zu dem grausamen Fall.

Bei der Toten handelt es sich um die entlaufene Nichte des Justizsenators, der aus irgendeinem Grund kein Interesse daran hat, dass die Hintergründe ihres Verschwindens genauer untersucht werden. Trotz anders lautender Befehle befragen Ken und Viktor die Mutter des verschwundenen Mädchens und fördern zu Tage, dass diese seit den Sommerferien verändert und mehrfach von zu Hause ausgerissen ist. Gemeinsam mit freizügigen Fotos, die der Justizsenator erwähnt und die er von einem "Internetputzer" bereits hat entfernen lassen, ergeben sich daraus einige Ermittlungsansätze.

Ein weiterer Handlungsstrang, neben dem Obdachlosen Gerd, bilden die ausgerissenen Kinder Jenny und Lukas, die ebenfalls "in Kontakt" mit dem Täter treten, der offenkundig in einem Internetchat mit dem Decknamen "Grand Guignol" in Erscheinung tritt, wobei deutlich wird, dass Videoaufnahmen des misshandelten Mädchens eine Rolle spielen.

Bereits am nächsten Tag, Freitag, dem 6.Januar 2017, wird der vermeintliche Täter gefunden.

Doch das Ermittler-Trio ist sich sicher, dass dies nur ein Bauernopfer gewesen sein kann. Wer steckt wirklich hinter dieser grausigen Tat? Und welcher Rolle spielt das Haus mit dem schalldichten Keller und dem Filmstudio, in dem der Täter aufgefunden und das in Brand gesteckt wurde?
Die drei beschließen auf eigene Faust weiter zu ermitteln - gegen den Willen ihres Vorgesetzten.

Bewertung
Der Fall ist wirklich grausig, da junge Mädchen gefoltert, missbraucht und schließlich getötet werden, wobei dies im Rahmen einer Inszenierung geschieht, die gefilmt und im Internet verbreitet wird - sogenannte Snuff-Videos (=filmischen Aufzeichnung eines Mordes) entstehen und werden im Thriller recht realitätsnah geschildert. Also nichts für schwache Nerven.

Im Kontrast dazu steht das mulitkulturelle Ermittlerteam. Jeder von ihnen wartet mit einer interessanten Vergangenheit auf und ihr lockerer Umgangston sorgt für temporeiche Dialoge. Ihr unterschiedlicher sozio-kultureller Hintergrund führt zu gegenseitigen Missverständnissen und manchmal hat man das Gefühl, da treffen Welten aufeinander, was in entsprechenden Situation so geschildert wird, dass man zwischendrin auch mal lachen kann.

Skurrile Szenen mit schwarzem Humor, Wortwitz und entsprechende Metaphern bilden somit das Fundament, auf dem man die grausamen Szenen ertragen kann.

"Dafür wurde die Entdeckung ihrer Leichen in der Spree und die Folter, die sie erlitten hatte, in der blumigsten Sprache, die das glatte Beamtendeutsch zuließ, ausgemalt." (S.185)

Interessant sind auch die verschiedenen Perspektiven - als Leser/innen erwartet uns Katharinas Tagebuch mit authentischer Jugendsprache

"Therese hat Onkel Max so was von geblickgefickt. Ich habe mich voll weggeschmissen. Er ist aber auch echt ein Dadster." (S.222)

Und ein Blick in den Kopf des Täters,

- "Er liebte die Dunkelheit" (S.260) -

der ebenfalls mit einer grausigen Vergangenheit aufwarten kann - aber das entschuldigt in keinster Weise seine Handlungen.

Glaubt man gegen Ende zunächst, es laufe auf den üblichen Showdown heraus, überrascht der Thriller mit einer unerwarteten Wendung und es wird so spannend, dass ich bei den letzten hundert Seiten nicht mehr aufhören konnte zu lesen.

Es gibt auch schon Hinweise darauf, dass es einen zweiten Fall mit dem Ermittler-Team geben wird. Darauf freue ich mich schon sehr!

Für alle Thriller-Fans, eine klare Lese-Empfehlung.

Buchdaten
Taschenbuch, 511 Seiten
Blanvalet, 2017

Vielen Dank für das signierte Lese-Exemplar.

Dienstag, 20. Februar 2018

Paolo Cognetti: Acht Berge

- die Geschichte zweier Lebenswege.

"Ihre ersten Berge, ihre erste große Liebe, waren die Dolomiten gewesen." (S.8)

Den Roman habe ich mir in einer Buchhandlung in Brixen, Südtirol gekauft, zu Beginn des Skiurlaubs in den Dolomiten. Passende Lektüre für einen Urlaub in den Bergen, die auf mich eine genauso große Faszination ausüben, wie auf den Protagonisten Pietro.

Worum geht es?
Pietros Eltern leben in Mailand, kommen aber aus einem kleinen Bergdorf aus dem ländlichen Veneto. Sein Vater ist Kriegswaise und ein besessener Gipfelstürmer, der sich nur in den Bergen zuhause fühlt.

"Meine Mutter, die ihn schon von klein auf kannte, erzählte, dass er schon damals auf niemanden warten wollte, so wild war er darauf gewesen, jeden einzuholen, den er vor sich hatte. Deshalb musste man gut zu Fuß sein, im in den Augen meines Vaters Gnade zu finden." (S.7)

In Mailand hingegen ist er ein anderer Mensch, statt auf die Gipfel blickt er auf die Autobahn, so dass sich Pietros Eltern im Juli 1984 ein Haus in Grana mieten, das am Monte Rosa Massiv liegt, am Fuße des Grenon.
Dort lernt Pietro den Kuhhirten Bruno kennen, der auch 11 Jahre alt ist. Sie freunden sich an und verbringen die folgenden Jahre jeden Sommer gemeinsam, erforschen den Wildbach, erkunden verlassene Ruinen und klettern an Berghängen, wobei Bruno stets vorne weg läuft.

"Vermutlich war schon damals klar, dass ich ihm überallhin folgen würde." (S.29)

Pietros Vater kann wegen seiner Arbeit immer nur für wenige Tage bleiben, doch seine Mutter blüht in Grana auf. Sie knüpft Freundschaften, liest, pflanzt Blumen und kümmert sich um das Haus - und sie stellt Nachforschungen zu Brunos Familie an, denn er lebt mit seiner Mutter alleine unter der Fürsorge seines Onkels.

Blick auf den Sella-Stock, Südtirol
In diesem ersten Sommer beschließt Pietros Vater, dass sein Sohn ihn auf seinen Bergtouren begleiten soll. Eine seltsame Erfahrung für den Jungen, dem der Gipfel nichts bedeutet. Sein Vater hingegen scheint ein anderer Mensch dort oben zu sein. Gemeinsam mit Bruno unternehmen sie auch eine Wanderung auf den Gletscher, auf dem Pietro höhenkrank wird. Statt der erwarteten Wut, reagiert sein Vater mit Angst und kehrt sofort um. Ein Ereignis aus seiner Vergangenheit scheint ihn zu verfolgen. Warum ist er so besessen davon, alle Berge zu erklimmen, abzuhaken auf einer riesigen Landkarte. Warum fühlt er sich nur auf dem Gipfel wirklich frei?

Bruno wird Teil der Familie, mit seiner Wissbegierigkeit und Bewunderung für Pietros Vater wäre er der ideale Sohn gewesen. Die Familie unternimmt den Versuch, Bruno mit nach Mailand zu nehmen, damit er weiter auf die Schule gehen kann. Doch dessen Vater verhindert dies, so dass Bruno in den Bergen bleibt und Maurer wird, während die Freundschaft der beiden für eine lange Zeit unterbrochen wird.

Sie finden wieder zueinander, als Pietros Vater stirbt und ihm ein "Haus" in den Bergen vermacht. Pietro bedauert, dass er seinen Vater Jahre zuvor abgewiesen hat und erkennt, dass er vieles mit seinem Vater gemeinsam hat.

"Ich wusste nicht mehr, warum ich die Berge hinter mir gelassen, und auch nicht, was ich stattdessen geliebt hatte, als meine Liebe zu ihnen erloschen war. Aber wenn ich allmorgendlich schweigend aufstieg, war es so, als würde ich wieder meinen Frieden mit ihnen machen." (S.138)

Er begibt sich auf Spurensuche und erfährt, warum sein Vater im Sommer die Berge bezwingen und seine Erinnerungen an Vergangenes auslöschen will.

"Aber der Gletscher ist der Schnee vergangener Winter, die Erinnerung an einen Winter, der einfach nicht vergehen will." (S.148)

Bewertung
Der Roman erzählt die Geschichte zweier ungleicher Freunde. Während der eine sein Leben lang in dem kleinen Bergdorf bleibt, reist der andere in die fernen Bergwelten des Himalaya. Ihre unterschiedlichen Lebenswege spiegeln sich in einem tibetanischen Symbol, das ein alter Nepalese Pietro erklärt:

"Für uns ist der Mittelpunkt der Welt ein sehr hoher Berg, der Sumeru, der wiederum von acht Bergen und acht Meeren umgeben ist. Das ist unsere Vorstellung von der Welt. (...) Wer hat mehr gelernt? Derjenige, der alle acht Berge gesehen, oder derjenige, der den Gipfel des Sumeru bestiegen hat?" (S.170)

Die Frage, die man sich beim Lesen zwangsläufig stellt: Welcher Weg ist der bessere? Zu allen Bergen reisen oder den höchsten besteigen. Im eigenen Umfeld bleiben oder Unbekanntes entdecken. Der Roman gibt keine Antworten, sondern stellt viele existentielle Fragen, so dass mehr als nur eine gute Geschichte erzählt wird.

Neben der Freundschaft steht die schwierige Vater-Sohn-Beziehung im Mittelpunkt. Pietro macht sich Vorwürfe, da er den Vater zurückgewiesen hat - ein Verhalten, das zum Erwachsen werden dazu gehört. Doch die beiden gehen nicht mehr aufeinander zu - bis es zu spät ist? Wann ist es Zeit, den ersten Schritt zu tun? Wie gehe ich mit der Schuld um? Eine Frage, der sich Pietros Vater zeitlebens stellt, warum will ich hier nicht verraten.

Mich hat dieser Roman nicht nur bewegt, weil ich die Faszination für die Berge teile, sondern weil er zwei Lebensweisen und -einstellungen gegenüberstellt, ohne diese zu bewerten. Und man sich zwangsläufig die Frage stellt, welchen Lebensweg man selbst eingeschlagen hat und ob dies der richtige gewesen ist.

"Wenn man noch jung ist, kann man vielleicht noch umsatteln. Aber irgendwann muss man in sich gehen und sich eingestehen: Das kann ich, und das kann ich nicht." (S.238)

Ein Roman, für den man Muße braucht - ein klare Lese-Empfehlung!

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 245 Seiten
DVA, 202017

Sonntag, 18. Februar 2018

Arno Geiger: Unter der Drachenwand

- im Kriegsjahr 1944.

Hören mit Sabine

Quelle: pixabay, Der Mondsee
Hörbuch von Audible
gesprochen von Torben Kessler, Michael Quast, Cornelia Niemann, Torsten Flassig
14 Stunden 22 Minuten

Von Arno Geiger habe ich vor Jahren "Es geht uns gut" sowie "Alles über Sally" gelesen - mit Freude und Begeisterung. Daher war ich sofort einverstanden, als Sabine vorgeschlagen hat, den neuen Roman von Arno Geiger gemeinsam zu hören.

Worum geht es?

Quelle: Hanser Verlag
Veit Kolbe wird im Russlandfeldzug 1943 schwer am Bein verletzt und ins Lazarett im Saargebiet geschickt. Nach seiner Rückkehr in die Heimat - Wien - wird er von seinen Erinnerungen heimgesucht und beschließt der Einladung seines Onkels, der am Mondsee, "Unter der Drachenwand" im Salzkammergut lebt und dort die politische Führung repräsentiert, zu besuchen.
Veits Vermieterin ist eine unfreundliche Frau, deren Mann, ein überzeugter Nationalsozialist, ebenfalls im Krieg ist, genau wie der Mann "der Darmstädterin" - Margot -, die im gleichen Haus wie Veit lebt, gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Lilo.
Im Dorf sind auch einige Mädchen aus Wien, die im Zuge der Kinderlandverschickung im Lager "Schwarzindien" gelandet sind. Die junge Lehrerin, die sie begleitet, verhält sich gegenüber Veit sehr zurückhaltend und abweisend. Unter den Mädchen ist Annemarie Schaller - Nanni - genannt, die Briefe von ihrem Cousin Kurti erhält, die, von der Lehrerin gelesen, großen Anstoß erregen. Offenkundig haben beide - die 13-Jährige und der 17-Jährige - eine Liebesbeziehung.

Der Roman spiegelt die Ereignisse des Kriegsjahres 1944 wider. Erzählt wird überwiegend aus der Sicht Veit Kolbes in Form von Tagebucheinträgen, die er während seines Aufenthaltes am Mondsee schreibt. Briefe von drei weiteren Figuren berichten von den Auswirkungen des Krieges in Darmstadt, Wien und in Budapest.

  • Margots Mutter schreibt aus Darmstadt, wo sie inzwischen ganz allein lebt. Ihr Mann ist in einem Vorbereitungslager, während ihre andere Tochter Bettine in Berlin als Schaffnerin arbeitet. Ihre Briefe haben einen typischen mütterlichen Ton, in die sich neben der Fürsorge um Margot und um ihre Enkeltochter auch offene Vorwürfe und Ermahnungen stehlen. Auf mich wirken sie sehr authentisch, wenn sie von ihren täglichen Sorgen und Ängsten erzählt, von denen, die gestorben sind, aber auch Klatsch und Tratsch verbreitet und ihre ältere Tochter bittet, die jüngere zur Räson zu bringen.
  • Die Briefe von Kurti an Nanni aus Wien sprechen von der Sehnsucht nach der gemeinsam verbrachten Zeit und von der Angst, in den Krieg geschickt zu werden. Eine Befürchtung, die sich bewahrheiten wird.
  • Bedrückend sind die Schilderungen des Juden Oskar Meyer, der unter verschiedenen Namen lebt und seine Erlebnisse in Wien bis zu seiner Emigration nach Budapest schildert. Die zunehmenden Demütigungen, die Hoffnung, es werde wieder besser, die Erkenntnis fliehen zu müssen - gemeinsam mit seiner Frau Walli und seinem Sohn Georgili. Ein weiteres Kind wird nach London geschickt und verbringt dort die Kriegsjahre.

In Veits Tagebucheinträgen spielt zudem Brasilianer eine große Rolle, er ist der Bruder der Vermieterin und hat lange Jahre in Rio de Janeiro verbracht, wohin er unbedingt zurückkehren möchte. Er betreibt eine Gärtnerei, in der sich Veit und Margot nach der Verhaftung des Brasilianers, der offen gegen den Führer Reden schwingt, näher kommen.
Hat diese Beziehung eine Chance? Muss Veit erneut in den Krieg zurückkehren, obwohl er von traumatischen Anfällen heimgesucht wird? Was wird aus Nanni und Kurt? Wird Oskar Meier mit seiner Familie den Einmarsch der Deutschen in Budapest überleben?

Bewertung
Eigentlich erzählt Arno Geiger nichts Neues. Was es an historischen Ereignissen über das Kriegsjahr 1944 zu berichten gibt, kennen wir alles. Dieses Mal erfahren wir etwas von einem Kriegsveteranen und einigen anderen Menschen, die lose mit ihm verbunden sind.

Und doch gibt der Roman Zeugnis vom Leben einzelner Menschen, das vom Krieg bestimmt wurde und die diesen niemals vergessen können. Am Ende reflektiert Veit darüber:

"Und ich wusste, dass ich tatsächlich und unwiderruflich in diesem Krieg bleiben würde. Egal, wann der Krieg zu Ende ging und was aus mir noch wurde, ich würde für immer in diesem Krieg bleiben, als Teil von ihm." (Kapitel 222)

Er trifft auf eine Gruppe von Zwangsarbeitern und ist nicht in der Lage ihnen zu helfen, da er kein Held ist, sondern einer, der den Krieg überleben will.

"Schade, dass das, was hinter mir liegt, nicht geändert werden kann. Was ich in den vergangenen sechs Jahren begriffen habe, ist, dass die Weisheit hinter mir hergeht und selten voraus. Am Abend kommt sie und sitzt mit am Tisch, als unnützer Esser." (Kapitel 222)

Im Laufe des Hörens kommen einem die einzelnen Figuren näher, da wir von ihren Gedanken und Ängsten erfahren, beginnt man sie und ihr Handeln zu verstehen. Dadurch dass Geiger den jungen Kurti von seinen Ängsten schreiben lässt, die alte Mutter von ihrer Einsamkeit in Darmstadt, den Kriegsveteranen von der Panik, in den Krieg zurück zu müssen, und Oskar Meyer von der Verzweiflung, seine Familie nicht schützen zu können, erhalten wir ein weites Spektrum dessen, wie der Krieg das Schicksal des Einzelnen bestimmt.

Der Roman zeigt das alltägliche Leben, wie Arno Geiger in einem kurzen Interview sagt, interessiere ihn "das Individuum in seiner Einzigartigkeit, mit seiner eigenen Geschichte, seinen eigenen Gefühlen." Er stellt sich die Frage: "Wie fühlt es sich an, im fünften, sechsten Kriegsjahr zu leben?"
Inspiriert wurde sein Roman von Briefen aus dem Lager "Schwarzindien", von Behördenbriefen und Elternbriefen, das "hat alles in Gang gesetzt."
(Quelle: Hanser-Verlag)

Auch wenn die Handlung manche Längen aufweist und dahin "plätschert", berühren diese Einzelschicksale, die insgesamt sehr authentisch wirken, so dass der Roman für mich ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen ist.

Gemeinsam mit Sabine habe ich festgestellt, dass ich den Roman allerdings lieber gelesen hätte. Der Hauptsprecher Torben Kessler ist leider der schwächste Sprecher, während die Briefe sehr überzeugend gelesen werden. Aber auch die sprachlichen Feinheiten und Formulierungen gehen beim Hören ab und an verloren, was in diesem Fall sehr schade ist, so dass ich eine klare Lese-Empfehlung aussprechen möchte.

Samstag, 17. Februar 2018

Franz Hohler: Das Päckchen

- ein Exemplar des "Abrogans".

Im Roman fällt dem Bibliothekar Ernst Stricker per Zufall die Abrogans in die Hände. Original oder Abschrift? Das offenbart sich erst am Ende des Romans. Doch was ist die Abrogans überhaupt?
Es handelt sich um ein lateinisch-althochdeutsches Glossar und gilt als das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache. Da der erste Eintrag abrogans = dheomodi (bescheiden, demütig) lautet, hat die Schrift diesen Namen erhalten.
In St.Gallen in der Stiftsbibliothek wird heute eine Abschrift von 911 aufbewahrt.

Doch wie gelangt dieses kostbare Buch in Ernst Besitz?

Am Bahnhof in Bern, wo er sich dienstlich aufhält, will er gerade seine Frau Jaqueline von einem öffentlichen Telefon anrufen, als der Apparat neben ihm klingelt. Warum er abnimmt, kann er sich, dessen Leben bisher in geordneten Bahnen verlaufen ist, nicht erklären. Die Frau am anderen Ende der Leitung, fragt:

"Ernst, (...) bist du es?" (S.5)

Quelle: wikipedia
Nach einem Zögern antwortet er und kommt ihrer Aufforderung um Hilfe nach, indem er sie in ihrer Wohnung besucht und ein geheimnisvolles Päckchen entgegennimmt. Es gehörte ihrem Mann Philipp Schaefer, einem passionierten Bergsteiger, der im Jahr 1980 von einer Ski-Tour, die er allein unternommen hat, nicht mehr zurückgekehrt ist.
Die fast blinde Frau Schaefer hält Ernst für ihren Neffen und vertraut ihm das Päckchen an, nach dem sich ein alter Bergfreund und ein angeblicher Antiquitätenhändler bereits erkundigt haben.

Ohne seiner Frau die Geschichte zu erzählen, stellt Ernst Nachforschungen zu der Handschrift an, nachdem er sie zuhause aus einem Blatt aus einer Liedersammlung ausgewickelt hat und sie sofort als eine Abschrift oder als Original der Abrogans erkannt hat. Er sucht die alte Dame ein weiteres Mal auf und trifft dabei auch auf den echten Neffen.

Der Roman wird aus verschiedenen personalen Perspektiven erzählt. Im Mittelpunkt steht Ernst, aber auch seine Frau Jaqueline, die ihn als unverbesserlichen Anachronisten beschreibt, da er sich gegen ein Smartphone wehrt, kommt zu Wort. Aufgrund der Geheimniskrämer Ernst glaubt sie, er betrüge sie.

"Sie waren damals, als sie sich zur Heirat entschlossen hatten, übereingekommen, dass die Basis ihrer Beziehung nur Offenheit sein konnte, denn auch Ernsts langjährige Freundin war ohne sein Wissen eine zweite Liaison eingegangen, ein Umstand, der sie beide verband." (S.46)

Beide lassen sich Raum für ihre jeweiligen Vorlieben, Ernst ist passionierter Berggänger, sie singt im Chor und Ernst zerstreut ihre Bedenken mit einem "feurigen Abend" (S.46).

Parallel zu den Nachforschungen Ernsts, die ihn zu jener Berghütte führen, auf der Philipp Schaefer im Jahr 1980 gewesen ist, wird die Entstehung der originalen Handschrift des Abrogans und seiner "Verbreitung" erzählt.

Im Jahr 772 schreibt der junge Novize Haimo das lateinisch-althochdeutsche Glossar und wird anschließend vom Abt Sigido des Klosters Weltenburg in Regensburg auf die Reise gen Süden geschickt. Während Haimo das Wörterbuch in verschiedenen Klöstern abschreiben lassen soll, wird er beauftragt für Sigido ebenfalls Abschriften anzufertigen. Unter anderem besucht er auch das Kloster in St. Gallen. Eine mühsame Arbeit, schließlich gab es noch keinen Buchdruck. Doch Haimo reist nicht allein, so viel sei schon verraten.

Während der Abrogans seine Reise antritt, findet Ernst in den Bergen einen Hinweis darauf, wie das Päckchen in Philipps Besitz gelangt ist sowie ein weiteres Buch aus dem 2.Weltkrieg, das erklärt, warum der angebliche Antiquar aus Deutschland auf der Suche nach dem Päckchen ist.

Bewertung
Laut Literaturhexle, mit der ich den Roman gemeinsam gelesen habe, "las es sich einfach und gut, aber insgesamt hat [ihr] die Tiefe gefehlt."

Den ersten Teil der Aussage kann ich bestätigen, durch die Nachforschungen Ernst und die parallele Handlung um die Entstehung und Verbreitung der Abrogans ist der Roman sehr spannend und interessant. Die liebevolle Herstellung der Abrogans - Haimo schmückt einzelne Buchstaben aus und verwendet kostbare Farbe - vermittelt den Wert der einzelnen Handschriften und führt uns anschaulich vor Augen, wie mühselig die Produktion der Bücher einst gewesen ist. Dieser Teil der Geschichte hat mich besonders fasziniert.
Der Handlungsstrang um Haimo gibt gleichzeitig einen Einblick in das Leben im 8.Jahrhundert, vor allem in das der Benediktinermönche mit ihren strengen Regeln.

Zudem ist der Abrogans nicht irgendein Buch, sondern das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache, mit dem der Abt ein besonderes Ziel verfolgt.

"Wir müssen das Lateinische in unsere deutsche Sprache bringen, damit alle das Wort des Herrn verstehen, auch diejenigen, die der alten Sprache nicht mächtig sind." (S.69)

Ein Anliegen, das auch Luther mit seiner Bibelübersetzung verfolgt hat, wenn auch einige Hunderte Jahre später.

Das Verstehen und das Lesen  kommen mehrfach im Roman zur Sprache. Ernst ist Bibliothekar und verweigert sich der digitalen Welt, er bedauert, dass immer weniger gelesen werde und - er heißt "Stricker", spinnt er also den Handlungsfaden? Franz Hohler wird Fabulierlust nachgesagt, das zeigt er eindrücklich mit diesem Roman, der einige skurrile Szenen enthält.

Ein anderer Aspekt, warum mir der Roman so gut gefallen hat, mag daher kommen, dass ich die Berge, ebenso wie der Protagonist Ernst liebe und mich die Schilderung seiner Wanderung zu der einsamen Berghütte besonders angesprochen hat.

Ebenso wie Haimo begibt sich auch Ernst auf eine Reise, die ihn und sein Leben letztlich verändert - der irregeleitete Anruf hat dazu geführt, dass er sich weiter entwickelt und seine geregelten Bahnen verlassen muss.

Daher von meiner Seite, eine klare Lese-Empfehlung ;)

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 223 Seiten
Luchterhand, 2017

Vielen Dank dem Blogger-Portal für das Rezensionsexemplar.


Dienstag, 6. Februar 2018

Kent Haruf: Lied der Weite

- erzählt von Zwischenmenschlichkeit und Güte.

Nachdem im letzten Jahr der Roman "Unsere Seelen bei Nacht" mein Lieblingsbuch gewesen ist, wollte ich natürlich auch den neu erschienenen Roman von Kent Haruf lesen. Meine Buchhändlerin war so freundlich, ihn mir als Leseexemplar zur Verfügung zu stellen und bei whatcharadin läuft eine Leserunde, an der ich teilnehme.

"Lied der Weite" ist vor "Unsere Seelen bei Nacht" entstanden und spielt ebenfalls in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, wie alle der 6 Romane des verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Kent Haruf (1943-2014).

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen mehrere Figuren, die am Ende in einer Gemeinschaft zueinander finden.

Da ist zunächst der Lehrer Tom Guthrie, der an der High School unterrichtet und dessen Frau unter Depressionen leidet.

"Drinnen war es fast völlig dunkel, der Raum wirkte abweisend und Ruhe gebietend wie der Altarraum einer leeren Kirche nach der Beerdigung einer zu früh verstorbenen Frau-" (S.10).

Ihre beiden Jungen Ike (10) und Bobby (9) sind mit der Situation überfordert und wünschen sich, die Mutter würde wieder aufstehen. Gemeinsam tragen sie jeden Tag die Zeitung aus und beim wöchentlichen Kassieren treffen sie auf die einsame, alte Mrs Stearns, deren Sohn im 2.Weltkrieg gefallen ist. Als sie erfährt, dass die Mutter der Jungen ausgezogen ist, äußert sie ihr Mitleid:

"Ihr müsst sehr einsam sein" (S.59),

und bringt den beiden jenes freundliche, gütige Verhalten entgegen, dass uns mehrfach in dieser Geschichte begegnet.

Victoria Roubideaux ist eine weitere Hauptfigur, sie steht im Zentrum des Romans. Gerade erst 17 Jahre alt ist sie schwanger von einem Jungen aus einer anderen Stadt, der sie verlassen hat. Ihre Mutter weigert sich ihr zu helfen und weist sie mit grausamer Kälte zurück.

"Dem Mädchen kamen die Tränen. Hilf mir, Mama. Ich brauch dich, du musst mir helfen. Zu spät, sagte die Frau. Du hast dir die Suppe eingebrockt, jetzt löffel sie auch aus." (S.15)

Allein gelassen wendet sich Victoria an die Lehrerin Maggie Jones, die ebenfalls an der High School unterrichtet. Maggie nimmt sie zwar auf, doch wegen ihres dementen Vaters kann Victoria dort nicht bleiben. Der Vater des Kindes scheint keine Verantwortung tragen zu wollen, trotzdem will Victoria das Kind behalten.

"Maggie Jones betrachtete eine Zeitlang ihr Gesicht. Das Mädchen sah müde und traurig aus, sie hatte die Decke um die Schultern gewickelt wie jemand, der ein Zugunglück oder eine Überschwemmung überlebt hat, trauriges Überbleibsel einer Katastrophe, die ihren Schaden angerichtet hat." (S.46)

Maggie hat die Idee, sie bei den Brüdern McPherons unterzubringen. Raymond und Harold führen seit dem frühen Tod ihrer Eltern eine Farm, 17 Meilen außerhalb von Holt, und züchten Rinder. Sie kennen auch Tom, der ihnen ab und an hilft, wenn es gilt zu überprüfen, ob die Kühe trächtig sind.

Ausgerechnet dort soll Victoria leben, bei diesen beiden Männern, die zu schweigen gewohnt sind und nicht wissen, was sie mit einem jungen Mädchen reden sollen.

"Zwei alte Männer, allein. Klapprige alte Junggesellen hier draußen auf dem Land, siebzehn Meilen von der nächsten Stadt, und auch die macht nicht viel her, wenn man hinfährt Schau uns an. Verschroben und ungebildet. Einsam. An Unabhängigkeit gewöhnt. Mit eingefahrenen Gewohnheiten. Wie willst du das alles in unserem Alter noch ändern? (S.143)

Sie sind nicht die einzige, deren Leben in Holt sich ändern wird.

Bewertung
Die Szene, in der der alte Arzt Victoria zum ersten Mal untersucht, zeugt von jener zwischenmenschlichen Güte, der meines Erachtens im Mittelpunkt des Romans steht. Behutsam erklärt er jeden seiner Schritte und behandelt sie respektvoll und freundlich.
Doch auch grausames Verhalten, wie Victorias Mutter es an den Tag legt, und Vorurteile herrschen in der Stadt. Der Junge Russell Beckmann demütigt Victoria vor der Klasse und gerät in einen heftigen Streit mit Tom Guthrie - ein Konflikt, in den auch die seine beiden Kinder hineingezogen werden.  Während die Beckmanns die Beschränktheit und asoziales Verhalten verkörpern, stehen die McPherons für Güte und Humanität. Aber auch die beiden "profitieren" von der Anwesenheit Victorias, denn nun müssen sie sich um jemanden kümmern, sich sorgen, sind "gezwungen" zwischenmenschlich zu agieren. Zuerst legen sie die Decke nachts über sie, dann kaufen sie ein Kinderbettchen und bringen sie zur Entbindung in die Stadt - berührende Szenen, ohne rührselig zu sein.
Haruf verdeutlicht an kleinsten Veränderungen, wie sich das Verhalten der beiden alten Männer gegenüber Victoria ändert. Zunächst gelingt es ihnen nicht, sie anzuschauen.

"Ich fürchte, das ist eine schwere Zeit für dich, sagte Raymond zu dem dem Mädchen. Er sah sie nicht an, sondern an ihr vorbei ins Leere." (S.163)

Als sie zurückkehrt, hat sich dies geändert.

"Wir haben uns Sorgen gemacht, sagte Raymond. Er saß neben ihr am Tisch und schaute sie an." (S.307)

Der Roman zeigt, wie Schlink treffend sagt (Buchrückseite), die Kraft der Liebe, aber auch die Schwächen der Menschen und
- das Leben selbst. Von trächtigen Kälbern ist zu lesen, von sterbenden Pferden, von der Geburt des kleinen Mädchens und dem Tod der alten Mrs Stearns. Von Sex und Liebe, Demütigung und Güte...

Ein unaufgeregter Roman, der mich genauso berührt hat, wie "Unsere Seelen bei Nacht" und für den ich eine klare Lese-Empfehlung aussprechen kann.

Hier geht es zur Verlagsseite.